Aufgrund des demografischen Wandels wird bei nahezu gleichbleibender Bevölkerungszahl die Nachfrage nach medizinischen Leistungen bis 2030 steigen. Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) hat dazu eine Prognose ermittelt, in welchem Ausmaß verschiedene Facharztgruppen davon betroffen sind und wie sich dies regional verteilen könnte. Da denkbare höhere Ausbildungskapazitäten erst langfristig wirksam werden, müssen Vertragsärzte sich stärker auf ihre Kernaufgaben konzentrieren, mehr delegieren und Praxisstrukturen neu organisieren, so das Fazit von "Zi-Inside" am 08. Februar.
Die Ausgangslage: Die Zahl der in Deutschland lebenden Menschen wird aufgrund einer Vorausberechnung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung zwischen 2019 und 2030 um 0,3 Prozent abnehmen. Leichte Zuwächse (plus 0,7 Prozent) werden für Städte, eine Abnahme (minus 2,5 Prozent) für den ländlichen Raum erwartet. Die signifikante Veränderung betrifft die Altersstruktur: Während die Zahl der Menschen zwischen 40 und 60 um zwölf Prozent sinkt, wird die der 60- bis 80-Jährigen um 17 Prozent steigen.
Allein aufgrund der Veränderung der Bevölkerungsstruktur wären keine dramatischen Veränderungen der Inanspruchnahme von Vertragsärzten bis 2030 zu erwarten. Das stärkste zusätzliche Wachstum an Fallzahlen hätten Augenärzte (plus sieben Prozent), Urologen (sechs Prozent) und Fachinternisten (vier Prozent) zu erwarten. Andere Fachgruppen, wie beispielsweise Frauenärzte, müssten mit einem Minus von bis zu vier Prozent rechnen.
Um zusätzlich die sich ändernden Inanspruchnahmegewohnheiten abzubilden, hat das Zi in zwei Versionen die Veränderung der bevölkerungsunabhängigen Inanspruchnahme altersspezifisch auf Basis der Daten von 2011 bis 2019 berücksichtigt. Würden die Veränderungen in diesem Zeitraum linear von 2019 bis 2030 fortgeschrieben, dann müssten Psychotherapeuten mit einer Zunahme ihrer Fallzahlen um 80 Prozent, Urologen und HNO-Ärzte hätten um zehn Prozent und Fachinternisten um acht Prozent höhere Fallzahlen.
Bei einer degressiven Fortschreibung der Vergangenheitswerte würde die Inanspruchnahme von Psychotherapeuten immer noch um 23 Prozent steigen und die der Fachinternisten und Urologen bei plus acht Prozent liegen. Dabei wird der Fallzahlanstieg bei den meisten Fachgruppen in Städten höher sein als im ländlichen Raum. Nicht berücksichtigt ist in dieser Prognose, das betont die Verfasserin der Studie Ramona Hering vom Zi, eine mögliche Intensivierung der Behandlung, also einen steigenden Behandlungsaufwand je Fall.
Zugleich nimmt aber auch das Durchschnittsalter der Vertragsärzte zu. Die zahlenmäßig stärksten Jahrgänge mit jeweils 6.000 Ärzten sind die jetzt 56- bis 60-Jährigen – zehn Jahre zuvor bildeten die damals 50-Jährigen die stärkste Alterskohorte. Zugleich lässt sich aber auch beobachten, dass die Lebensarbeitszeit der Vertragsärzte signifikant zunimmt, sehr deutlich unter jenen Vertragsärzten, die heute zwischen 65 und 70 sind.
Die Gründe dafür können vielfältig sein: Schwierigkeiten, einen Nachfolger zu finden, Verantwortungsbewusstsein gegenüber Patienten, Lücken in der Versorgung vermeiden – solche Erwägungen sind offenbar weit wichtiger als immer wieder geäußerter Frust über den Praxisalltag und seine bürokratischen Beschwernisse.
Die zukünftige zusätzliche Belastung eines jeden Arztes wird aber auch davon abhängig sein, wie die Nachbesetzung freiwerdender Arztsitze aussieht. Diese liegt bei Hausärzten, Gynäkologen und Dermatologen bei 95 bis 96 Prozent, diese Arztgruppen müssen also künftig ebenfalls mit mehr Arbeit rechnen, weil Kollegen fehlen. Bei den Psychotherapeuten entspannt sich die Beanspruchung dadurch, dass hier zwischen 2017 und 2021 eine Nachbesetzungsquote von 140 Prozent erreicht wurde.
Selbst wenn heute die Zahl der Medizinstudienplätze signifikant aufgestockt würde – was unwahrscheinlich ist –, brächte das auf mittlere Sicht keine Entspannung, weil die Komplettausbildung bis zum Facharzt 12 bis 15 Jahre dauert. Folglich müssten sich Praxen organisatorisch neu aufstellen und Ärzte ihre Funktion neu definieren, um sich Arbeit mit höher qualifizierten, teils akademischen Gesundheitsberufen zu teilen, so Thüringens KV-Vorsitzende Dr. Annette Rommel und Professor Henrik Herrmann von der Ärztekammer Schleswig-Holstein.
Auch bei den Praxen werde es tendenziell eine Zentralisierung geben, so Rommel, und das erfordere einen Ausbau der ländlichen Verkehrsinfrastruktur. Es werde mehr MVZ in KV-Trägerschaft geben müssen; ein. Modell dafür seien die Stiftungspraxen der KV Thüringen, in denen angestellte Ärzte mit der Option arbeiten, zu einem späteren Zeitpunkt in den Freiberufler-Status zu wechseln. Dafür müssten allerdings auch neue Finanzierungswege geschaffen werden – allein aus dem Sicherstellungsfonds und Abführen aus dem vertragsärztlichen Honorar seien nicht mehr ausreichend.
Rommel wie auch Herrmann sehen Chancen in einer besseren horizontalen Vernetzung, vor allem auch durch Nutzung der Telemedizin: Hier könnten höher qualifizierte, teils akademische Gesundheitsfachberufe eine wichtige, die Ärzte entlastende Funktion einnehmen.
Eine entscheidende Aufgabe für die ärztliche Selbstverwaltung – verantwortlich dafür sind vor allem die Bundesärztekammer und die Ärztekammern – sei die Reform der Weiterbildung und deren Verlagerung in die ambulante Medizin. Notwendig sei dies, weil aufgrund der geplanten Krankenhausreform wahrscheinlich weniger Weiterbildungsstellen zur Verfügung stehen, aber auch, weil Versorgung in die Praxen verlagert wird. Zudem, so Herrmann, müsse unbedingt geprüft werden, ob die Weiterbildungsgänge überfrachtet seien und – insbesondere bei Teilzeit – unangemessen lange Weiterbildungsdauern entstehen. Denkbar sei, spezielle Qualifikationen später im Facharztstatus nachzuholen.
Dringend sei aber auch eine Förderung der Fachberufe, die Aussichten seien dafür prinzipiell gut. Immer noch sei die MFA einer der gefragtesten Ausbildungsberufe. Das eigentliche Problem sei, ebenso wie in der Pflege, die "Standzeit" im Beruf. Notwendig seien deshalb Höherqualifizierungen bis hin zur Akademisierung, eine Aufwertung des Berufs mit neuen Funktionen und damit eine wachsende Attraktivität, die den Verbleib im Beruf auf Dauer sichert.
Rommel wie auch Herrmann forderten von der Politik, gemeinsam mit den Praktikern aus der Versorgung nach Lösungen zu suchen. Allein mit akademischen Experten – wie dies bei der Krankenhausreform versucht werde – könne das nicht gelingen.