"Hausärzte mit ihren Teams sind das Fundament der Gesundheitsversorgung. Doch aktuell wird wenig daran getan, um die ambulante Versorgung, die sich auch in der Pandemie bewährt hat, zu stärken und für die Zukunft abzusichern", kritisiert die Vorsitzende des baden-württembergischen Hausärzteverbandes, Professor Nicola Buhlinger-Göpfarth anlässlich des derzeit stattfindenden Hausärztetages.
Insbesondere die Inflation treffe die Praxen hart, da Kostensteigerungen bislang nicht ausgeglichen werden. Die Anpassungssystematik im SGB V sieht zwar eine Anerkennung von Kostensteigerungen vor, dabei wird die Inflation des Jahres 2022 aber erst in den Vergütungen für das Jahr 2024 berücksichtigt. Dagegen erhielten Krankenhäuser einen nahezu unmittelbaren Inflationsausgleich, etwa für steigende Energiekosten. Das führe dazu, dass Praxen im Vergleich zu Kliniken keine wettbewerbsfähigen Gehälter mehr zahlen könnten. So werde die hausärztliche Versorgung destabilisiert und der Fachkräftemangel verschärft. Buhlinger-Göpfarth fordert deshalb dringend eine Anpassung der Vergütungen an die steigenden Kosten für die ambulante ärztliche Versorgung.
Verärgert zeigte sich die Hausärztin auch über die Art und Weise, wie Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Reform der Notfallversorgung und die Digitalisierung vorantreiben will: Obwohl Hausärzte in der Notfallversorgung unverzichtbar seien und einen großen Teil der Arbeit leisten müssten, seien diese bislang nicht am Reformprozess beteiligt worden. Eine Hauptursache der Fehlentwicklung sei die hohe und nicht zielgerichtete Inanspruchnahme der Notfallambulanzen. Buhlinger-Göpfarth plädiert dafür, dass Patienten vor einem persönlichen Kontakt mit einer Notfallambulanz verpflichtend eine elektronische Ersteinschätzung vornehmen sollten, um dann ein Ticket für einen Termin in der Ambulanz zu erhalten. Ohne ein solches Ticket müssten Patienten eine Rechnung erhalten, also sich an den Kosten selbst beteiligen.
Ungeachtet widriger gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen investiert der baden-württembergische Hausärzteverband in die Zukunft und Nachhaltigkeit der hausärztlichen Versorgung. Dazu gehört das Konzept der "Nachhaltigen Hausarztpraxis" mit einem Zertifikat als Reaktion auf die Klimakrise und die häufiger und länger werdenden Hitzeperioden. Es handelt sich um einen ganzheitlichen Ansatz, von dem sowohl Patienten als auch das Praxisteam profitieren sollen und das Energie- und Umweltaspekte in den Praxisalltag integriert.
Dabei ist das gesamte Praxisteam gefordert: Im Rahmen von Fortbildung soll es befähigt werden, klimabedingte Gesundheitsrisiken zu erkennen und Patienten präventive Maßnahmen zu empfehlen. Mindestens einmal jährlich soll das Team eine interdisziplinäre Fortbildung in "Planetary Health" absolvieren. Ein Aspekt dabei ist auch die Stärkung der Gesundheit des Praxisteams selbst. Ferner sollen die Praxen bei der Entwicklung kommunaler Hitzeschutzpläne mitwirken und deren Umsetzung unterstützen.
Von Nachhaltigkeit sollen insbesondere auch die MitarbeiterInnen in Hausarztpraxen profitieren: Berücksichtigt werden die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, betriebliche Gesundheitsförderung, Stressbewältigung, Prävention durch Schutzimpfungen, soziale Mindeststandards wie die Einhaltung von Tarifverträgen und eine partizipative Gestaltung der Arbeitsprozesse.
Für Patienten sollen neue Angebote zur Verfügung gestellt werden: leichte Erreichbarkeit der Praxis durch eine Videosprechstunde und Telemedizin, auch um energiezehrenden und umweltschädliche Fahrten zu vermeiden. Mit klimasensibler Gesundheitsberatung und speziellen Videosprechstunden soll die klimabezogene Gesundheitskompetenz von Patienten verbessert werden. Bei der Verschreibung von Inhalativa sollten Pulverinhalatoren bevorzugt werden, weil Dosieraerosole Treibhausgasemissionen verursachen. Auf die Abgabe von Arzneimittelmustern sollte verzichtet werden, weil diese nur als Kleinpackungen abgegeben werden dürfen und einen hohen Anteil an Verpackungsmüll aufweisen. Generell sollten Patienten auch aus Umweltgründen vor Überversorgung geschützt werden: das gilt sowohl für Polymedikation als auch für verzichtbare Facharztkonsultationen und energiefressende Diagnostik.
Nachhaltige Praxen berücksichtigen bei ihrer Organisation und beim Einkauf Umweltaspekte: wiederverwendbare Materialien, Einführung der papierfreien Praxis und Verwendung von Recycling-Papier, Nutzung biologischer/ökologisch zertifizierter Desinfektionsmittel, Mülltrennung und Auswahl von Lieferanten anhand ökologischer und sozialer Kriterien. Im Bereich Mobilität bietet die Praxis Jobtickets an, stellt Job-Fahrräder und nutzt umweltverträgliche Kraftfahrzeuge. Durch Nutzung erneuerbarer Energien, Umsetzung von LED-Beleuchtungskonzepten und Begrünung leisten nachhaltige Praxen einen Beitrag für eine verbesserte Umweltbilanz.
Nachhaltige Praxen verstehen sich als "gesellschaftlicher Akteure", die auch Einfluss auf politische und gesellschaftliche Veränderungen haben und am öffentlichen Diskurs teilnehmen. Aufgrund ihres Vertrauenskapitals sehen sie sich in einer Schlüsselrolle und sind überzeugt von einer hohen Reichweite ihrer Argumente.