"Wir leben in einer Ausnahmesituation. Wir stehen an einem Kipppunkt." Mit diesen Worten verdeutlichte die Vorsitzende der KBV-Vertreterversammlung Petra Reis-Berkowitz die Fragilität der ambulanten ärztlichen Versorgung. Nach drei Corona-Krisenjahren, in denen die niedergelassenen Ärzte in Deutschland – anders als in anderen Ländern – die stationäre Versorgung vor dem Kollaps bewahrt haben, und nach eineinhalb Jahren Ukraine-Krieg, Energiekrise und zweistelliger Inflation sehen sich die Vertragsärzte "mit dem Rücken an der Wand", so Reis-Berkowitz. Sie sorgen sich um den Nachwuchs, der kaum noch zur Niederlassung als Freiberufler bereit ist, und trotz oft übertariflicher Bezahlung lassen sich freie MFA-Stellen immer schwieriger besetzen – oder Krankenhäuser werben diese Fachkräfte mit Lockangeboten ab, weil sie die Kosten von den Kassen voll refinanziert bekommen.
Dr. Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der KBV, artikulierte, was die Ärzte besonders ärgert: Das von Lauterbach trotz zweistelliger Milliarden-Löcher in der GKV-Bilanz penetrant wiederholte Versprechen, es werde keine Leistungskürzungen geben, aber von den Ärzten zu erwarten, dass sie trotz bestehender Budgetierung all diese Leistungsversprechen erfüllen würden. "Flatrate" und "All you can eat" – diese Mentalität von Politik und Gesellschaft wollen die Vertragsärzte nicht mehr weiter hinnehmen und Lauterbach mit der Realität konfrontieren.
Im Herbst wird Lauterbach zwei Jahre im Amt sein. Von seinen vollmundigen Versprechungen insbesondere an die niedergelassenen Ärzte – Stärkung der Freiberuflichkeit, Entbudgetierung nicht nur für Kinderärzte, sondern auch für Hausärzte, Entbürokratisierung, Aufstockung der Medizin-Studienplätze und Umsetzung des Masterplans 2020 – hat der Minister bislang kaum etwas eingehalten, dafür aber mit der Neupatienten-Regelung die Budgetierung verschärft. Während Krankenhäuser ihre Pflegekosten und Tarifsteigerungen automatisch via Pflegebudget vollständig refinanziert bekommen und überdies inflationsbedingte Sonderzahlungen erhalten haben, gelten für die Verhandlungen der Orientierungswerte die alten Regelungen aus Zeiten der Null-Inflation: Kostensteigerungen werden für die Praxen erst nach zwei Jahren einnahmenwirksam. Lächerliche 2,1 Prozent hat der GKV-Spitzenverband aktuell angeboten, aus der Sicht der Ärzte wirkt dies wie aus der Zeit gefallen.
Reis-Berkowitz und Gassen signalisierten der Politik: Noch ist Zeit zum Umsteuern, aber der Zug rast in Richtung Abgrund. Die Geduld der Ärzte ist erschöpft, und die Krisensitzung könnte der Auftakt eines heißen Herbstes für die Gesundheitspolitiker in Bund und Ländern werden, vor allem aber für Karl Lauterbach, der primär in der Verantwortung gesehen wird.
Sprecher der 17 KVen machten an Beispielen deutlich, welche Fehlentwicklungen, ja Absurditäten, den Praxisalltag behindern, wertvolle Arbeitszeit auf Kosten der Patienten absorbieren, Fortschritt und Investitionen in den Nachwuchs fast unmöglich machen.
Beispiel Bürokratie: Sie frisst inzwischen 60 volle Arbeitstage eines Praxisinhabers. Und erreicht kafkaeske Ausmaße: Impfleistungen sind in 69 Ziffern abgebildet – um das korrekt abzurechnen, braucht es eine Extra-Schulung. Reha-Anträge: Um den Antrag zu stellen, braucht es ein Antragsformular zum Antragsformular; meist lehnt die Kasse ab, weil sie bei Rentnern eh keine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit erwartet. Vermeidung der Pflegebedürftigkeit? – Egal, ist ja Sache der Pflegekassen.
Ambulantisierung: Desinteresse beim GKV-Spitzenverband und bei der DKG. Die KBV hat einen Katalog mehrerer 1.000 Leistungen vorgelegt, die auch ambulant erbracht werden könnten, wenn Ärzte und Kliniken die gleiche Vergütung bekommen. Die Verhandlungen sind im Sande verlaufen. Ambulantes Operieren ist zum Teil so unattraktiv geworden, dass sich dafür kein Nachwuchs mehr findet.
Einzelregresse: eine offenbar immer beliebter werdende Schikane von Krankenkassen, meist wegen Bagatellbeträgen. Würde man die Geringfügigkeitsgrenze von 30 auf 100 Euro anheben, gäbe es 50 Prozent weniger Anträge, das beantragte Regressvolumen würde nur um vier Prozent sinken. Ärgerlich für die Ärzte: der hohe Rechtfertigungs- und Bürokratieaufwand. Allein in Baden-Württemberg hat sich die Anzahl der Regressanträge binnen weniger Jahre verfünffacht.
Psychotherapeuten: Die Weiterbildung wurde inhaltlich neu geregelt, ausgespart wurde eine Absicherung der Finanzierung – trotz eines absehbar steigenden Bedarfs an psychotherapeutischen Leistungen und entsprechend mehr Psychotherapeuten.
Ärztliche Weiterbildung: In etlichen Disziplinen wird deren Leistungsinhalt nicht mehr stationär erbracht, dringend notwendig ist der Ausbau der Weiterbildungskapazitäten in der ambulanten Medizin, insbesondere für grundversorgende Fachärzte. Anders als in der Allgemeinmedizin wird dies nicht von den Kassen mitfinanziert – die Ärzte zahlen das aus dem eigenen Honorar. Allein 56 Millionen Euro wendet die KV Nordrhein dafür auf. "Wir brauchen einen Turbo für die ambulante fachärztliche Weiterbildung. Das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."
In der Ärzteschaft brauen sich schwere Wetter zusammen – ähnlich wie vor rund 20 Jahren, als es in Berlin und in anderen Metropolen zu Großkundgebungen kam. Damals waren es ebenfalls Budgetierung und Kujonierung, die den Zorn der Ärzte nachhaltig entfachten. Und die Rahmenbedingungen für Reformen waren ebenfalls schwierig: geringes Wirtschaftswachstum, defizitäre Krankenkassen. Dennoch erwies sich die Politik – damals rot-grün – als handlungs- und reformfähig: Der AiP wurde abgeschafft, MVZ ermöglichten die Arbeit als angestellter Arzt in der ambulanten Versorgung, das Vertragsarztrechtsänderungsgesetz schuf eine hohe Flexibilität der Organisation vertragsärztlicher Arbeit und Kooperation. Und die ärztliche Vergütung und deren Entwicklung wurde an die Morbidität und nicht mehr an sachfremde ökonomische Kennziffern geknüpft. Die Gesundheitsministerin hieß damals Ulla Schmidt. Karl Lauterbach sollte sich erinnern können.
Sieben Forderungen der Praxen an die Politik
Die Mitglieder der KBV-Vertreterversammlung sowie weitere rund 700 Ärzte haben auf der Krisensitzung der KBV folgende sieben Forderungen an die Politik gerichtet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach wurde aufgefordert, dazu binnen vier Wochen – bis zur nächsten regulären KBV-Vertreterversammlung – Stellung zu nehmen. Die Forderungen im Einzelnen:
- Finanzierung: Zeitnahe Berücksichtigung von Inflation und Kostensteigerungen im Orientierungswert.
- Abschaffung der Budgets: Vergütung aller Leistungen, die von den Praxen tatsächlich erbracht werden.
- Ambulantisierung: Gleiche Spielregeln und Vergütung für Leistungen, die sowohl in Praxen als auch in Krankenhäusern erbracht werden.
- Digitalisierung: Sie muss bestehende Versorgungsprobleme lösen und erfordert nutzerfreundliche und funktionstüchtige Technik, deren Finanzierung sichergestellt sein muss. Datengestützte Patientensteuerung ist Aufgabe von Ärzten und Psychotherapeuten.
- Weiterbildung in den Praxen: Ambulante Weiterbildung muss gestärkt und ausgebaut werden.
- Bürokratieabbau: Lauterbach wird aufgefordert, das angekündigte Bürokratieabbaupaket zu schnüren, Medizin muss wieder im Vordergrund stehen.
- Regresse: Medizinisch unsinnige Wirtschaftlichkeitsprüfungen und Arzneimittelregresse müssen abgeschafft werden.