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Rheumatologie: Interdisziplinäre Ansätze notwendig

Der Deutsche Rheumatologiekongress 2023 steht bevor. Aus diesem Anlass unterhielten sich Expertinnen und Experten über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen.

Zunahme rheumatischer Erkrankungen in Deutschland: Probleme in der Versorgung? 

Zwei Studien, die dieses Jahr publiziert wurden, berichteten von einer Zunahme rheumatischer und anderer Autoimmunerkrankungen (Systematisches Review zur Schätzung der Prävalenz entzündlich rheumatischer Erkrankungen in Deutschland, doi: 10.1007/s00393-022-01305-2; Incidence, prevalence, and co-occurrence of autoimmune disorders over time and by age, sex, and socioeconomic status: a population-based cohort, doi: 10.1016/S0140-6736(23)00457-9). In Deutschland ist in den letzten Jahren ein Anstieg der Häufigkeit von entzündlich rheumatischen Erkrankungen in den letzten Jahren festzustellen. Daraus lässt sich ableiten, dass heute zwischen 2,2 und 3 Prozent der Erwachsenen in Deutschland eine entzündlich rheumatische Erkrankung haben, also zwischen 1,5 und 2,1 Millionen Betroffene. Von der juvenilen Arthritis sind in Deutschland etwa 14.000 Kinder und Jugendliche betroffen.1,2 

Auch in der zweiten Studie, durchgeführt in England, ließ sich eine Zunahme rheumatischer Erkrankungen, insbesondere beim Sjögren-Syndrom, sowie einiger anderer Autoimmunerkrankungen feststellen.3 Die zunehmende Häufigkeit rheumatischer Erkrankungen ist, so beide Studien, auf eine höhere Lebenserwartung, gesunkene Mortalität und eine verbesserte Frühdiagnostik zurückzuführen. Allerdings impliziert dies auch, dass eine entsprechende Versorgung für betroffene Patientinnen und Patienten gewährleistet werden muss. 

Doch bereits heute finden Rheumakranke nur schwer einen Termin bei einem Rheumatologen oder einer Rheumatologin, so Rotraut Schmale-Grede, Präsidentin der Deutschen Rheuma-Liga, Bonn. So dauert es mehrere Monate, bis eine Vorstellung bei einem Spezialisten möglich ist, obwohl laut Schmale-Grede belegt ist: 

"Je früher eine spezifische Therapie bei entzündlichem Rheuma beginnt, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Erkrankung mildert, ihren Verlauf verlangsamt oder im günstigsten Fall zum Stillstand bringt." 

So müsse es zahlreiche Verbesserungen in der Versorgung geben, inklusive einer erleichterten Zulassung als Rheumatologe sowie einer engmaschigen Einbindung der Hausärzteschaft, um sich so gut wie möglich um Betroffene kümmern zu können.

Frauen und Rheuma: Warum geschlechtersensible Medizin unerlässlich ist

Obwohl sich Frauen gesünder ernähren, häufiger medizinische Vorsorgeangebote in Anspruch nehmen und im Falle gesundheitlicher Beschwerden öfter zum Arzt gehen, erhalten sie die Diagnose einer rheumatischen Erkrankung im Gegensatz zu Männern deutlich später, obwohl Frauen prozentual gesehen häufiger an Rheuma leiden. Denn bei der Mehrzahl rheumatischer Erkrankungen ist der Anteil an betroffenen Frauen größer, insbesondere bei Kollagenosen und der rheumatischen Arthritis. 

“Umso verwunderlicher erscheint es, dass Frauen im Durchschnitt deutlich später eine Diagnose erhalten”, so Privatdozent Dr. med. Uta Kiltz, Oberärztin am Rheumazentrum Ruhrgebiet.1 

Zwar weisen Männer in der Regel einen schwereren Krankheitsverlauf auf, allerdings geben Frauen gegenüber männlichen Patienten eine erhöhte Krankheitslast an. Dieser schwerere Krankheitsverlauf bei Männern könnte ein Grund für deren frühere Diagnose sein. Außerdem zeigen Frauen ein vielfältiges Bild an Symptomen, "was eine eindeutige Diagnose zusätzlich erschweren kann", so Kiltz. Diese Unterschiede lassen sich auf hormonelle, (epi)genetische und immunologische Unterschiede zurückführen. 

Bisher umstritten ist, ob sich die Wirksamkeit von Medikamenten zwischen den Geschlechtern unterscheidet. Nachzuweisen ist allerdings, dass immunsuppressive Therapien bei Frauen weniger dauerhaft wirken. Außerdem erreichen sie im Vergleich zu Männern deutlich seltener das Therapieziel einer niedrigen Krankheitsaktivität, was möglicherweise mit sozialen und psychologischen Folgen einer rheumatischen Erkrankung zusammenhängen könnte, die bei Frauen und Männern womöglich unterschiedlich ausfallen.

Professor Dr. med Christoph Baerwald, Kongresspräsident der DGRh und emeritierter Leiter der Abteilung Rheumatologie am Universitätsklinikum Leipzig betont: 

"Die Ergebnisse zeigen, dass die Rheumatologie hier Nachholbedarf hat. Wir müssen die geschlechtsspezifischen Krankheitsausprägungen besser verstehen und diese Erkenntnisse in die Diagnostik und Therapie einfließen lassen."

Alterndes Immunsystem: Was kann die Medizin tun? 

Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch die Häufigkeit des Auftretens vieler rheumatischer Erkrankungen. Die häufigste rheumatische Autoimmunerkrankung beispielsweise, die rheumatoide Arthritis, nimmt ab dem 60. Lebensjahr in ihrer Prävalenz deutlich zu. Tritt die RA in noch höherem Lebensalter auf (LORA = late onset rheumatoid arthritis), beginnt sie zumeist sehr schnell und hochakut und zeichnet sich durch einen besonders schweren, Gelenk-destruierenden Verlauf aus. Gerade deswegen ergibt sich die ärztliche Notwendigkeit, insbesondere bei älteren Patienten das potenzielle Neuauftreten einer rheumatischen Erkrankung immer im Blick zu behalten. So kann dann eine zügige Diagnose und anschließend eine konsequente Behandlung erfolgen. 

Jedoch gibt es im Falle der rheumatoiden Arthritis auch eine Gruppe von Betroffenen, deren Erkrankungsbeginn in ein Alter zwischen 25 und 40 fällt. Bei diesen Patienten setzen Alterungsprozesse, die normalerweise erst mit 60 beginnen, bereits 20 bis 30 Jahre früher ein. Deswegen ist es die Aufgabe der Rheumatologie, in Zukunft Beobachtungen "Alterungsassoziierter, seneszenter" Veränderungen auch bei jungen Patienten nutzbar für Diagnose und Therapie zu machen. Insbesondere die T-Zellen spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung der rheumatoiden Arthritis. Denn: Die Gesamtheit aller T-Zellen bei Betroffenen mit rheumatoider Arthritis weist Veränderungen auf. Üblicherweise treten diese erst im höheren Alter auf, jedoch können bereits vorzeitig naive T-Zell-Populationen verloren gehen oder große T-Zell-Klone entstehen. Zwar existiert bisher noch keine an der Ursache der Alterungsprozesse angreifende Therapiemöglichkeit, allerdings stehen entsprechende Studien in den Startlöchern. 

Wie realistisch ist die Präventivtherapie bei rheumatischen Erkrankungen?

Wird es in Zukunft möglich sein, Risikopersonen vor beginnenden Symptomen einer rheumatischen Erkrankung zu identifizieren und bereits im Vorfeld so zu behandeln, dass es weder zu Symptomen noch zu Folgeschäden kommt? Prof. Dr. med. Andrea Rubbert-Roth, leitende Ärztin und stellv. Leiterin der Klinik für Rheumatologie, Kantonsspital St. Gallen, betont, dass es solche prädiktiven Marker derzeit und wahrscheinlich auch in naher Zukunft noch nicht gibt. Denn: "Sogar der Nachweis von Rheumafaktoren und ACPA (Antikörper gegen citrullinierte Peptide bei Personen, die zum Zeitpunkt der Messung keine muskuloskelettale Beschwerden aufweisen, bedeutet nicht zwangsläufig, dass diese Personen später eine rheumatoide Arthritis entwickeln werden."

Rauchen, Exposition gegenüber Textilstaub oder anderer Luftverschmutzung sowie Passivrauchen führen zu einer vermehrten Citrullinierung von Peptiden und Proteinen in der Lunge, weswegen diese als wesentlich für eine nachfolgende Antikörperbildung gegen citrullinierte Peptide angesehen wird. Wodurch, warum und wann es dann im weiteren Verlauf allerdings zu muskuloskelettalen Beschwerden kommt, ist unklar. 

Für die Zukunft wäre es denkbar, Methotrexat (MTX) – die initiale Standardtherapie einer rheumatoiden Arthritis – daraufhin zu untersuchen, ob man damit bei Risikopatienten eine Erkrankung verhindern kann. Eine niederländische Studiengruppe arbeitete hierzu heraus, dass MTX das Auftreten von rheumatoider Arthritis nicht verhindern konnte, aber den Krankheitsverlauf beeinflussen konnte (TREAT EARLIER; doi: 10.1016/S0140-6736(22)01193-X).4 

Eine weitere Untersuchung befasste sich mit dem Einsatz von Abatacept bei Patienten mit muskuloskelettalen Beschwerden und entzündlichen Veränderungen im MRT, die auch ACPA oder Rheumafaktoren im Blut aufwiesen (The ARIAA Study). Es wurde gezeigt, dass Abatacept das Auftreten von rheumatoider Arthritis reduzieren und die MRT-Ergebnisse verbessern konnte, jedoch muss festgehalten werden, dass der Benefit im Laufe der Zeit nach einer Therapiepause geringer wird.5 Nichtsdestotrotz, so Rubbert-Roth, wird die Präventivtherapie rheumatischer Erkrankungen in zukünftiger Forschung noch eine große Rolle spielen. 

DGRh-Kongress 2023: "Blick über den Tellerrand"

Vom 30.08. bis zum 02.09.2023 kommt die Deutsche Gesellschaft für Rheumatologie im Rahmen ihres 51. Fachkongresses zusammen, um sich zum gesamten Spektrum der Rheumatologie auszutauschen – von der klinischen Rheumatologie über den praktischen Versorgungsalltag hin zur experimentellen Rheumatologie mit innovativen Entwicklungen und zum interdisziplinären "Blick über den Tellerrand". Alle Highlights finden Sie in der esanum-Berichterstattung.

Referenzen:
  1. Vorabpressekonferenz (online) anlässlich des Deutschen Rheumatologiekongresses 2023, 23.08.2023
  2. Albrecht K. et al. Systematisches Review zur Schätzung der Prävalenz entzündlich rheumatischer Erkrankungen in Deutschland. Z Rheumatol. 2023 Jan 2. doi: 10.1007/s00393-022-01305-2. Online ahead of print
  3. Conrad N. et al. Incidence, prevalence, and co-occurrence of autoimmune disorders over time and by age, sex, and socioeconomic status: a population-based cohort. Lancet 2023; 401: 1878–90
  4. Krijbolder DI, Verstappen M, van Dijk BT et al. Intervention with methotrexate inpatients with arthralgia at risk of rheumatoid arthritis to reduce the development of persistent arthritis and its disease burden (TREAT EARLIER): a randomized, double-blind, placebo-controlled, proof-of-concept trial. Lancet 2022; 400: 283-294.
  5. Rech J, Kleyer A, Ostergaard M et al. Abatacept significantly reduces subclinicalinflammation during treatment (6months), this persists after discontinuation 812 months), resulting in a delay in the clinical development of RA I patients at risk of Ra (The ARIAA Study) Arthritis Rheumatol 2022; 74 (suppl 9).