Bis Betroffene seltener Erkrankungen eine Diagnose erhalten, können 5 und sogar 20 Jahre vergehen. Das ist viel Zeit, in der die Krankheit fortschreitet und Komorbiditäten entstehen. Was jedoch muss sich ändern, damit Menschen mit einer seltenen Erkrankung schneller Hilfe bekommen? Mit dieser Frage beschäftigte sich im Vorfeld des am 28. Februar stattfindenden Rare Disease Day das Tagesspiegel-Fachforum Gesundheit zum Thema "Seltene Erkrankungen: Wege zu einer besseren Diagnose“, bei dem Experten aus Medizin, Politik und Pharmabranche über die aktuelle Lage und die Zukunft der Behandlung seltener Erkrankungen diskutierten.
In Deutschland gibt es rund 4 Millionen Menschen, die an einer von 8.000 bekannten seltenen Erkrankungen leiden, weltweit sind es 300 Millionen Betroffene. Tagesspiegel-Geschäftsführer Stephan-Andreas Casdorff nannte die Menschen mit seltenen Erkrankungen in seiner Einführung die “Waisen der Medizin“, weil sie wenig Aufmerksamkeit von Medizin, Gesellschaft und Politik erhalten. Doch welche Lösungsansätze gibt es für die Verbesserung der Diagnose und wie ließe sich die Zeit bis zur Diagnose signifikant verringern? Was hat sich die neue Bundesregierung vorgenommen? Das Tagesspiegel-Fachforum will eine Bestandsaufnahme machen: Was wurde erreicht und was noch nicht?
Vom aktuellen Stand der Versorgungsforschung an seltenen Erkrankungen berichtete NAMSE-Leiterin Dr. Miriam Schlangen. Das vom Bundesministerium für Gesundheit, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem ACHSE e. V. geförderte Nationale Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen wurde 2010 mit dem Ziel gegründet, die Lebensqualität von Betroffenen zu verbessern. Einen großen Erfolg sieht Schlangen im nationalen Aktionsplan, der 2013 zusammen mit etwa 80 Experten erarbeitet wurde und Informationen für Betroffene und medizinisches Personal enthält.
Die Probleme vieler Betroffener beginnen auch heute noch meist mit der späten Diagnose. Manifestiert sich eine seltene Erkrankung zudem erst im Jugend- oder Erwachsenenalter, ist die Diagnose oft noch schwieriger. Im Schnitt werden bis zu einer Diagnose 10 Ärzte konsultiert – durch Fehltherapien schreitet die Erkrankung möglicherweise sogar schneller voran. Um hier Abhilfe zu schaffen und den Betroffenen schneller zu Diagnose und Behandlung zu verhelfen, wurden die Zentren für seltene Erkrankungen etabliert. Dort bündelt sich das Wissen der wenigen Experten auf diesem Gebiet. Oft wüssten die Primärversorger aber noch immer nicht, wohin sie ihren Patienten abgeben können – es fehlt das Wissen über die nächstgelegenen Zentren für seltene Erkrankung. Ein großer Schritt war für Schlangen ferner die Zertifizierung der TYP-A-Zentren für seltene Erkrankungen im vergangenen Jahr. Ab 2023 sei darüber hinaus nun endlich auch eine Codierung für Seltene Erkrankungen geplant und damit für Betroffen eine Überführung in die Regelversorgung möglich.
Doch bei allen Erfolgen bleibt auch ein Wermutstropfen: Das Ende der Förderung hat den NAMSE-Prozess ins Stocken gebracht, so Schlangen. Es sei zwar eine Lösung für eine Weiterarbeit gefunden worden, aber mit dem Auslaufen der Förderung Ende 2022 könnte sich dies ändern. Schlangen appellierte daher an die Politik, die Förderung schnell zu sichern.
Bei der sich daran anschließenden Schnellfragerunde stellten sich Prof. Dr. Klaus Debatin vom Zentrum für Seltene Erkrankungen (ZSE) am Universitätsklinikum Ulm, Grünen-Bundestagsabgeordnete Linda Heitmann und Heidrun Irschik-Hadjieff von der Takeda Pharma GmbH den Fragen von Tagesspiegel-Gesundheits-Chefredakteur Ingo Bach.
Die erste Frage zielte darauf ab, ob die Zentren für seltene Erkrankungen hochmoderne Mittel wie Künstliche Intelligenz, Big Data und Machine Learning überhaupt nutzen können? Haben sie die Voraussetzungen dafür oder braucht es dafür am Ende sogar mehr als die bestehenden 35 Zentren für seltene Erkrankungen?
In Deutschland sei pro Jahr mit 20 bis 30 Fällen von seltenen Erkrankungen zu rechnen. Prof. Debatin sieht deshalb keine Notwendigkeit für weitere Zentren. Wichtiger ist für ihn die Bündelung der Expertise. “Der Austausch zwischen den Zentren ist ein ganz entscheidender Punkt. Ein Großteil der seltenen Erkrankungen hat genetische Ursachen und da ist die Diagnostik entscheidend.“ Die Mittel für die nötige diagnostische Feinarbeit seien nur in den Zentren für seltene Erkrankungen vorzuhalten, ein Hausarzt könne sich nicht in ein Konsortium mit einem Genetiker setzen. Die Betreuung sei dann wieder etwas anderes. “Ein entscheidender Punkt wird die Netzwerkbildung zwischen den Unikliniken sein, denn dort ist die Forschung zuhause. Dazu brauchen wir ein sehr viel besseres Datenmanagement insgesamt. In der Pandemie haben wir gesehen, dass wir jedoch ein echtes Datenproblem haben. Wir haben keinen Zugang zu Daten, die in anderen Ländern selbstverständlich sind und dadurch können wir auch bestimmte Vernetzungen nicht so gut aufbauen."
In diesem Zusammenhang stellte Bach an Linda Heitmann die Frage, ob die Politik beim Thema Datenschutz bereit sei, über neue Regelungen nachzudenken. Heitmann will den Datenschutz nur ungern aufweichen: “Uns ist allen klar, der Datenschutz muss gewährleistet sein, Patientendaten dürfen nicht ohne Einwilligung weitergegeben werden.”
Für Takeda-Sprecherin Heidrun Irschik-Hadjieff ist es aber nicht zwingend notwendig, neue Datenschutzstandards zu definieren, schließlich könne der Patient auch selbst seine Daten für die Forschung freigeben. Ab 2023 seien solche Datenspenden rechtlich besser geregelt. Wichtig sei jedoch die Aufklärung, um Patienten die Angst vor Missbrauch zu nehmen, denn die Daten seien sehr wichtig für die Versorgungsforschung.
Debatin schlug darüber hinaus eine patientenorientierte Verwendung der Daten vor. Die Patienten seien sehr viel mehr bereit, anonymisiert Daten bereitzustellen, als die Politik es manchmal zulasse. Das grundlegende Problem sei derzeit ein ganz anderes: “Datenschutz darf keine Entschuldigung dafür sein, dass unsere IT-infrastruktur in weiten Teilen noch nicht in der Lage ist, manche Verknüpfungen zu gewährleisten. Solange wir in den Krankenhäusern noch Papierakten hin und her tragen, sind wir weit davon entfernt, Vernetzungen von Daten zu bekommen.”
Zum Ende der Fragerunde richtet der Tagesspiegel seinen Blick in die Zukunft. Heitmann wünscht sich, das eine Diagnose statt wie bisher nach 5 bis 7 Jahren dann bereits nach 3 Jahren möglich ist und setzt auf eine Verbesserung des Wissens in der Ärzteschaft zu seltenen Erkrankungen sowie zu den versorgungsnahen Zentren . Debatin wünscht sich für die Zukunft mehr Zusammenarbeit zwischen den medizinischen Fachleuten. Kinderärzte nehmen Auffälligkeiten nach seiner Erfahrung schneller wahr und überweisen relativ schnell an die Zentren. Das wünscht er sich auch bei anderen Fachgruppenen. Hierfür müssten Anreize zur Zusammenarbeit geschaffen werden zwischen Unikliniken und Hausärzten. "In den Unikliniken gibt es Fachkonferenzen zwischen den Experten. Warum sollten gemeinsame Fachkonferenzen nicht auch mit den Praxen möglich sein? Das ist oft keine ökonomische Frage, sondern eine Awareness-Frage. Die Aufgabe des Arztes ist es, für jeden Patienten die beste Therapie zu finden", betonte Debatin.
In der nächsten Diskussionsrunde über Ärzte und deren Grenzen trat vor allem die Kinder- und Jugendärztin Prof. Dr. Annette Grüters-Kieslich von der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Seltene Erkrankungen in den Vordergrund. Im Esanum-Interview zum Rare Disease Day berichtet sie zudem noch genauer über die Arbeit der Zentren für Seltene Erkrankungen.
Fragen die aus Sicht Grüters-Kieslichs zu klären waren: Was bedeutet es für die Betroffenen, wenn keine Therapie möglich ist? Wie bringt man das den Patienten bei und/oder den Eltern? Grüters-Kieslich: “Man spürt auch bei sich selbst die Verzweiflung. Man hat das Gefühl, man hat nicht genug getan. Das ist es, was uns alle antreibt, die sich mit seltenen Erkrankungen beschäftigen. Dass wir aus dem Gefühl des kollektiven Versagens herauskommen.” Auch in dieser Diskussionsrunde ist das Thema Patientendaten ein Thema. Grüters-Kieslich hat die Erfahrung gemacht, dass die Eltern eine große Bereitschaft haben, sich an der Forschung zu beteiligen und sie zu unterstützen. Viele hätten die Forschung enorm vorangetrieben, indem sie auf das Thema aufmerksam gemacht haben, selbst Initiativen gegründet haben. In diesem Zusammenhang äußert sie auch die Frage, wie Ärzte lernen können, mit den Betroffenen selbst nach Lösungen suchen?
Positiv hob sie einen Modellstudiengang zum Thema “Wie überbringe ich schlechte Nachrichten?” hervor. Die Erkenntnis aus diesem Seminar: “Man muss nicht versuchen, jeden Patienten in die Schublade einer Diagnose zu drängen, die man kennt. Dann hat man den Nebeneffekt, dass die Patienten in der Schublade sitzen.” Darum sei es wichtig, Mediziner bereits während des Studiums dafür zu sensibilisieren, immer nachzufragen.”Auch wenn die Therapie nicht oder nicht gut anschlägt. sollte man sich immer selbst fragen: Habe ich die richtige Diagnose gestellt? Das ist kein persönliches Versagen.”
Wichtig sei zudem, dass Ärzte auch Patienten und/oder deren Eltern (bei Minderjährigen) als Experten für die eigene Erkrankung wahrnehmen und anerkennen. Darüber hinaus sei es elementar, so Annette Grüters-Kieslich, dass die Zentren und Initiativen, die bisher auf den Weg gebracht wurden, eine nachhaltige Finanzierung erhalten. So hätte unter anderem die NAMSE-Geschäftsstelle bereits Stellen abbauen müssen und das dürfe in Anbetracht der Probleme schon bei der Diagnose seltener Erkrankungen nicht sein.
Unsere Beiträge zum Rare Disease Day 2022 im Überblick: