Ärztetag 2023: Scharfe Kritik an der Gesundheitspolitik Logo of esanum https://www.esanum.de

Lauterbach beim Ärztetag: Einladung zur Mitarbeit auf den Reformbaustellen

Bundesgesundheitsminister Lauterbach ist auf dem Ärztetag 2023 scharfer Kritik ausgesetzt. Sein Versprechen: "Ich arbeite ganz systematisch mit Ihnen gemeinsam die Versäumnisse der letzten zehn Jahre ab."

Reinhardt: Unzureichende Kooperation mit der Selbstverwaltung

Es war schon starker Tobak, den Dr. Klaus Reinhardt, der Präsident der Bundesärztekammer bei der Eröffnung des Ärztetages dem gerade aus Japan angereisten Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach unter die Nase blies: Abgesehen von den kritischen Sachthemen – die ignorierte Notwendigkeit der GOÄ-Reform, die Verschärfung der Budgetierung durch die Neupatienten-Regelung im GKV-Fin-Gesetz, die Schaffung neuer Schnittstellenprobleme durch Gesundheitskioske und Community-Health Nurses – nahm Reinhardt vor allem die Arbeitsweise der Bundesregierung und speziell des Bundesgesundheitsministeriums aufs Korn und attackierte sie als potenziell "demokratiegefährdend".

"Generell mangelt es an strukturierter Kooperation des BMG bei Gesetzgebungsverfahren", konstatierte Reinhardt. Während der Pandemie, bei der auch Gefahr in Verzug war, habe man für die Notwendigkeit schneller Entscheidungen mit sehr kurzen Beteiligungsfristen sicher Verständnis haben müssen – aber diese Arbeitsweise sei inzwischen zur Regel geworden. Es sei inzwischen gängige Praxis des Ministeriums, Gesetz- und Verordnungsentwürfe mit Fristsetzungen von nur wenigen Tagen, mitunter aber auch nur wenige Stunden Anhörungsberechtigten zur Stellungnahme zu übermitteln. "Das ist hinsichtlich der Akzeptanz von Reformen in der Bevölkerung demokratiegefährdend und eine nicht hinnehmbare Dehnung des Rechtsstaats." Um dann hinzuzufügen: "Wir sind keine Lobby, sondern eine Institution der Selbstverwaltung mit einem Gemeinwohlauftrag!"

Ohne dies direkt aufzugreifen, versuchte Lauterbach die mit außergewöhnlich anhaltendem Beifall bedachte Rede des Präsidenten erst einmal mit überschwänglichem Dank an die Ärzteschaft zu "kontern": zum einen für ihren Einsatz und die lebensrettende Leistung während der Pandemie, zum zweiten für ihr humanitäres Engagement zur medizinischen Hilfe für die Ukraine und die Flüchtlinge aus diesem Land.

Qualität statt Kosten- und Mengenorientierung

Ohne auf die Kritik Reinhardts näher einzugehen, versuchte Lauterbach, den Leitfaden aller geplanten Reformen darzulegen – und wie sehr das auch im Interesse der Ärzteschaft sein müsste: die seit den 2000er Jahren immer wieder beklagte Ökonomisierung durch eine stärkere Orientierung an Versorgung und ihre Qualität zurückzudrängen. Wobei unter Ökonomisierung eine primäre Orientierung an Kostenkontrolle, Kostensenkung und Mengenausweitung zu verstehen ist. Korrekturbedarf sieht Lauterbach in vielen Versorgungsbereichen:

  • Arzneimittel: Kosten- und Preissenkungen im Generikabereich seien überzogen worden mit der Folge von Lieferengpässen und Versorgungsproblemen nicht nur bei Kinderarzneimitteln und Antibiotika, sondern inzwischen auch bei Statinen und Antiarrhythmika mit der Folge, dass Deutschland oft als erstes Land nicht mehr beliefert werde. 
  • Medizinische Versorgungszentren: Rosinenpickerei und hohe Gewinnabschöpfungen durch iMVZ einschließlich der negativen Folgen auf Weiterbildungsmöglichkeiten für junge Ärzte sollen im ersten oder zweiten Versorgungsgesetz durch neue Regulierungen verhindert werden – auch mit dem Ziel, die Freiberuflichkeit der Vertragsärzte zu stärken; für Pädiatrie und hausärztliche Versorgung sei die Aufhebung der Budgets geplant. Durch Sonderzulassungen sollen die Kapazitäten in der psychotherapeutischen Versorgung von Kindern erweitert werden, um lange Wartezeiten abzubauen. Dies sei dringlich insbesondere auch vor dem Hintergrund der belastenden Folgen der Pandemie, in der die Kinder besondere Opfer zum Schutz der älteren Generation erlitten haben.  
  • Krankenhausreform: Bis zu 60 Prozent der Erlöse sollen Krankenhäuser künftig mengenunabhängig erwirtschaften können – Qualität und deren Finanzierung rückten in den Vordergrund, verbunden mit weniger Bürokratieaufwand bei der Dokumentation und mehr Zeit für die Arbeit am Patienten. Lauterbach: "Bei dieser Reform werden wir auch die Ärzte und die Praxis einbeziehen, aber als Ministerium wollen wir erst ein gutes Werkstück in Form eines Gesetzentwurfs vorlegen." 
  • Ausbau der Studienkapazitäten in der Medizin: Notwendig seien 5.000 zusätzliche Studienplätze, so Lauterbach – es werde aber bis zu zwölf Jahre dauern, bis die notwendige Erweiterung der Hochschulkapazitäten entlastend in der Versorgung wirksam werden. Einer systematischen Anwerbung von Ärzten, aber auch von Pflegekräften in anderen Ländern lehnte Lauterbach kategorisch ab: Es sei ein "unethisches Versagen" von Gesundheitspolitik, ärmeren Ländern Mediziner für die Versorgung der eigenen Bürger zu entziehen – ein Ziel, das sein Vorgänger noch vor kurzem angestrebt hatte.

Aufarbeitung der Versäumnisse von zehn Jahren 

Zerknirscht gestand Lauterbach ein, dass die Fehlentwicklungen, die nun dringend Korrekturen durch weitreichende Reformen erfordern, seit langem bekannt sind. "Ich arbeite ganz systematisch mit Ihnen gemeinsam die Versäumnisse der letzten zehn Jahre ab. Das ist keine Schuldzuweisung, denn wir waren ja selbst an den Regierungen beteiligt. Schauen Sie nicht zurück, sondern nehmen Sie die Einladung an, bei diesen Reformbaustellen mitzuarbeiten."