Ich visualisiere das Thema "Werte in der Medizin" gern an einem Beispiel: Wir haben eine Frau mit Eierstockkrebs getrackt, um festzustellen, wie viele medizinische Professionen und Individuen im Laufe einer 14-tägigen Behandlung Kontakt zu der Patientin hatten. Insgesamt waren 144 verschiedene Personen der unterschiedlichsten Fachbereiche an ihrer Diagnostik, Therapie und Betreuung beteiligt. Das zeigte, dass keine Erkrankung ein Ich-AG-Thema ist, das von einer einzigen Disziplin betreut werden kann.
Wenn man sich diese 144 beteiligten Individuen vorstellt, fragt man sich logischerweise: Wo sind die Prozeduren und Kontakte eigentlich abgestimmt? Wo sind die Plattformen, die all das abbilden? Die klassischen DRGs kategorisieren ja immer eine einzelne Erkrankung und berechnen sie teilweise nur oberflächlich entsprechend der scheinbaren Schwere der Erkrankung und der Komplikationen. Hier wird mehr als deutlich, dass der Anspruch der Ganzheitlichkeit, sowie das Ideal, dass alle Disziplinen miteinander sprechen, häufig nicht erfüllt ist. Die notwendigen Interaktionen und Strukturen bleiben unberücksichtigt. Hier liegt ein krasser Widerspruch zu dem Anspruch der partizipatorischen, interdisziplinären und transprofessionellen Entscheidungsfindung und Teilhabe bei Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Doch dies sollte ja eben das wesentliche Charakteristikum einer modernen und personalisierten Medizin sein. Der Mensch per se sollte im Mittelpunkt stehen – und nicht die Technik oder die Krankheit. Deswegen brauchen wir eine neue Zentrierung des Gesundheitssystems.
Wir sind ja in der Ära der personalisierten, zielgerichteten Therapiestrategien darauf angewiesen, Dinge gut zu erklären und die Patientinnen auch tatsächlich mitzunehmen. Medizinische Verfahren ohne Beachtung der notwendigen Kommunikationsstrukturen stehen daher stark im Konflikt mit unseren Werten, denen wir uns entsprechend Hippokrates verpflichtet fühlen. Das sind genau die Werte, die auch unsere Patientinnen erwarten dürfen.
Ich hatte gestern in einer Klinik in einer Großstadt angerufen und da gab es keinen einzigen Arzt in der gesamten gynäkologischen Klink. Der Chef hatte gekündigt, und die drei weiteren Ärzte waren krank, die Klinik konnte keine Patientinnen annehmen. Wie kann das sein? Ich fürchte, das ist kein Einzelfall.
Das klingt vielleicht hart. Aber es wird immer wieder in Technik investiert – anderes, Wesentliches, fällt dabei zu häufig hinten runter. Jetzt wachsen überall die Kosten, Energie- und Medikamentenpreise steigen, die Rahmenbedingen werden schwieriger. Wie kann es sein, dass ein Gespräch über eine Krebsdiagnose oder ein Krebsrezidiv mit wenigen Euro abgebildet wird – ohne dass Inhalt und Qualität eine Rolle spielen? Dieses Vorgehen schmälert die Chance, Ressourcen in diese so wesentlichen Gespräche zu investieren. Die Arzt-Patienten-Kommunikation, das personalisierte und stetige Feinjustieren, muss doch die eigentliche Basis von Innovation sein. Die großzügige Finanzierung von Apps und anderen digitalen Möglichkeiten kann zwar unterstützen, aber nicht die so wichtige menschliche Nähe in der Medizin ersetzen. Es geht um das physische Arzt-Patienten-Gespräch!
Der Arzt ist Teil eines komplexen Medizinsystems, das ökonomisiert und industrialisiert ist. Auch er arbeitet unter ökonomischem Druck. Ein richtiger Schritt ist hier, dass die Krankenpflege aus der DRG herausgenommen wurde. Aber alle anderen Professionen eben noch nicht.
Wir wissen, dass aktuell beispielsweise Kindermedizin und viele Frauenerkrankungen ökonomisch nicht sehr attraktiv erscheinen. Und Prävention wird so gut wie gar nicht honoriert. Aber kümmern wir uns nur noch um Krankheiten, die sich ökonomisch gut abbilden lassen?
Ich denke, dass im Sinne der Ökonomie und der Qualität eine Optimierung der Ressourcen notwendig ist. Dazu gehören eine Zentralisierung von Exzellenzstrukturen und Netzwerke, die nicht nur in Krisensituationen wie bei der Covid-19-Pandemie, Vorhaltemaßnahmen möglich machen. Ein Weg wird meiner Meinung nach sein, dass nicht mehr jeder alles machen kann. Wenn sie bestimmte Operationen fünfzigmal im Jahr durchführen und nicht nur dreimal, werden sie natürlich schneller und haben weniger Komplikationen. Wir werden Ressourcen einsparen, wenn wir in Exzellenzinitiativen transsektoral enger zusammenarbeiten. Wenn durch diese Netzwerke Fehlbehandlungen vermieden werden, dann wird das Ganze auch ökonomischer. Das heißt, es muss in qualitätsgetriggerte Netzwerke investiert werden - und zwar transsektoral: es geht um Kliniken, Praxen, um Berufsgruppen. Bundeslandübergreifende und berufsgruppenübergreifende Netzwerkstrukturen könnten das leisten. Verschiedene europäische Länder sind schon auf diesem Weg. Sie legen fest, was, wo und unter welchen Voraussetzungen operiert werden darf. Bei uns läuft es noch so, dass überall alles bezahlt wird – egal ob das Vorgehen und das Ergebnis gut sind.
Wir haben also den Wertekonflikt zwischen dem ökonomischen Druck und den Erwartungen der Mitarbeiterinnen und Patientinnen an Aufklärung und Information. Darüber ist jetzt ein nicht einfacher Diskurs zu führen. Wir müssen diese Diskussion in eine Botschaft überführen, über die Grenzen der Berufsgruppen im Gesundheitssystem hinweg.
Die Frage ist: Muss Medizin überhaupt Geld machen? Das ist eine gesamtgesellschaftliche Entscheidung. In dieser Wertediskussion sollten wir eine neue Balance finden. Also: welchen Stellenwert hat die interdisziplinäre, transprofessionelle Zusammenarbeit? Wie wichtig ist uns die Kommunikation mit den Patientinnen? Und wie können wir dies mit der Ökonomie in Einklang bringen? Das ist sicher ein langer Weg. Ich weiß aber, dass viele Mediziner danach streben und mitgestalten wollen.
Mehr zum Thema auch im Podcast Weissbunt von Prof. Dr. Sehouli: Klinikdirektor trifft Pfleger Ricardo Lange - "ES REICHT!"
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