Nach einer Studie des Wirtschaftsberatungsunternehmens PricewaterhouseCoopers wird es allein im deutschen Gesundheitswesen 2035 bis zu 1,8 Millionen Stellen geben, die nicht mit Fachkräften besetzt werden können. Und das Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation für Europa sieht schon jetzt manifesten Fachkräftemangel, aber keinen Masterplan für dessen Bewältigung. Grund für das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung, die Handlungsoptionen für die ambulante Medizin unter die Lupe zu nehmen.
Trotz steigender Arztzahlen – in Köpfen gerechnet – befindet sich die vertragsärztliche Versorgung in einem herausfordernden Strukturwandel: Im Zeitraum zwischen 2012 und 2020 hat die Zahl der Teilzeitbeschäftigungen um 190 Prozent zugenommen; der Anteil der Freiberufler-Vertragsärzte ist rückläufig, die einzige wachsende Organisationsform ist das MVZ mit überwiegend angestellten Ärzten, berichtet zi-Vorstandsvositzender Dr. Dominik von Stillfried. Die Folge ist, dass das ärztliche Produktionspotential bei wachsendem Bedarf stagniert oder gar sinkt. Um dem zukünftigen Bedarf gerecht zu werden, müssten 5000 neue Studienplätze geschaffen werden; aber auch das würde bei einer insgesamt mindestens zwölfjährigen Gesamtausbildungsdauer frühestens Mitte der 2030er Jahre für die Versorgung wirksam werden.
Vor diesem Hintergrund gewinnt die Delegation ärztlicher Aufgaben an medizinische Fachberufe strategische Bedeutung, um die wachsenden Herausforderungen für die ambulante Medizin bewältigen zu können. Mit der Aufwertung der Medizinischen Fachangestellten (MFA) in den letzten 15 Jahren sind dazu entscheidende Schritte unternommen worden, so Dr. Sandra Mangiapane vom zi: das sind die von der Uni Greifswald 2007 entwickelte AGnES, die vom Institut für hausärztliche Versorgung initiierte VERAH (2008) sowie die 2009 von Kammern und KVen entwickelte EVA. Sie entlasten Ärzte maßgeblich bei der Dokumentation, der Anamnese-Vorbereitung, Hausbesuchen, Injektionen und Patientenbetreuung.
Die Aufwertung der MFA ist ein Erfolgsmodell: Die Zahl der Praxen mit mindestens einer NÄPA ist seit 2015 von 6187 auf inzwischen über 9.600 gestiegen. Vor allem Hausärzte bauen auf die NÄPA, der Anteil der Hausarztpraxen mit NÄPA schwankt je nach KV zwischen 15 und 50 Prozent. Auch Internisten und Urologen setzen gern eine NÄPA ein.
In Fokus-Interviews mit sieben Hausärzten wurde eine Bewertung des Werts der VERAH ermittelt: sie arbeitet teilweise autark, übernimmt Beratungen und Hausbesuche, betreut chronisch kranke Patienten und hat eine eigene Sprechstunde für die Betreuung von Diabetikern. Fazit: "Die VERAH ist die Speerspitze der Hausarztpraxis."
Gefragt wurde auch nach möglichen Funktionen der von der Ampelkoalition in Vorbereitung befindlichen Community Health Nurse: Das Aufgabenspektrum könne dem der VERAH ähnlich sein, wobei sich dann allerdings die Frage stelle, warum ein neues Berufsbild erforderlich ist. Gewarnt wird davor, ein neues Leistungssegment in der GKV und der ambulanten Versorgung zu schaffen, mit dem neue Schnittstellenprobleme und Kommunikationsbrüche entstehen. Die Community Health Nurse müsse unbedingt in bestehende Strukturen integriert werden. Aus diesem Grund präferieren die Ärzte eher die Weiterentwicklung der MFA-Qualifikationen und die Integration von Physician Assistants in die Praxen.
"Delegation und Kooperation sind von Ärzten inzwischen voll akzeptiert", sagt der stellvertretende Vorsitzende der KV Westfalen-Lippe, Dr. Volker Schrage, unter Verweis auf eine einstimmige Resolution seiner Vertreterversammlung. Sie ermöglichen die Ausweitung des Praxisangebots, bieten Karrierechancen und entlasten die Ärzte maßgeblich zugunsten der Wahrnehmung von Führungsaufgaben und zur Versorgung schwieriger Patienten.
Das gilt inzwischen auch für den – einst unter Ärzten umstrittenen – Beruf des Physician Assistant mit inzwischen über 1000 Fachhochschulabsolventen. Schrage stellt ein großes Interesse der Praxen fest, diese neue Berufsgruppe zu integrieren. Um nähere Erkenntnisse über die Funktionen des PA, die Praxisabläufe, Einsatzmöglichkeiten und Akzeptanz zu gewinnen, startet die KV Anfang 2023 ein Projekt, in dem dies systematisch untersucht wird; das Zentralinstitut wird dazu die Evaluation übernehmen.
Schrage warnt eindringlich davor, mit Konzepten wie der Community Health Nurse Nebensysteme zu schaffen, die nicht auf die Praxisstrukturen abgestimmt sind. Vor allem bei einer Übertragung der Heilkundeberechtigung auf weitere Berufsgruppen drohe eine Zersplitterung der Verantwortung mit neuen Risiken für Patienten. Daher solle die Politik eher integrierende Ansätze verfolgen wie die Anstellung von NÄPAs oder Physician Assistants in Praxen.
Trotz eines seit etwa zwei Jahren zu beobachtenden Fachkräftemangels sieht Hannelore König, die Vorsitzende des Verbandes der medizinischen Fachberufe – er repräsentiert 700.000 Beschäftigte und ist eine der größten Spartengesellschaften -, eine insgesamt positive Entwicklung des Berufs: "Die MFA ist kein Sackgassen-Beruf mehr. Durch Höherqualifikationen ist sogar eine Akademisierung zum Physician Assistant möglich geworden." Und die Qualifikation sei inzwischen auch in den Tarifverträgen abgebildet.
Dabei sieht sie nicht nur administrativ-organisatorische Aufgaben für ihre Berufsgruppe, sondern durch Qualifikation auch Entlastung von Ärzten durch Übernahme medizinischer Tätigkeiten. Ebenso wie die Ärzte sieht sie die Pläne des Bundesgesundheitsministerium kritisch und plädiert für den Ausbau der MFA-Funktionen im bestehenden Praxissystem.
Die Integration und Verknüpfung mit Praxen oder Praxisnetzen hält auch Dr. Dirk Heinrich, Spifa-Vorsitzender und HNO-Arzt in Hamburg bei den von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach geplanten Gesundheitskiosken für dringend geboten. Heinrich weiß, wovon er spricht: Er ist Mitinitiator des Ärztenetzes Hamburg-Billstedt, wo er den Prototypen für einen solchen Kiosk in einem Problem-Stadtteil mit extrem hoher Morbiditätsbelastung und schlechter sozioökonomischer Struktur aufgebaut hat. Das Modell wurde vom Innovationsausschuss des Bundesausschusses positiv evaluiert, die Effekte niedrigschwelligen Zugang zu Beratung und Medizin, aber auch Hospitalisierungsrate und Arzneimittelkosten sind signifikant. Heinrich plädiert dafür, derartige Gesundheitskioske auf soziale Brennpunkte zu fokussieren und sie unbedingt mit der ambulanten ärztlichen Versorgung zu verknüpfen, am besten zu integrieren.