esanum: Frau Prof. Thun, was steckt hinter dem "European Health Data Space"?
Thun: Es handelt sich um einen Vorschlag für eine EU-Verordnung. Es geht darum, dass das Selbstbestimmungsrecht der EU-Bürger in Bezug auf die Gesundheitskompetenz erhöht wird. Perspektivisch soll für jeden eine digitale Gesundheitsakte "My Health at EU" entstehen. Jedes Land stellt in seiner eigenen Infrastruktur den Bürgern eine solche digitale Gesundheitsakte zur Verfügung. Sofern Patienten das möchten, wird diese Akte auch anderen Ländern zugänglich sein. Das ist die EHDS-Idee. Dazu gehören natürlich auch juristische Dinge, wie Regeln zum Datenzugriff und Datensicherheit – und natürlich auch Ideen, was in die Akte überhaupt hineingehören soll.
Ein weiterer Part im EHDS ist, dass Bürger die Daten auch der Forschung zur Verfügung stellen können. Es geht also um Primär-Datennutzung und Sekundär-Datennutzung. In Österreich funktioniert die digitale Gesundheitsakte E(L)GA übrigens schon seit Jahren. Nun ist die Hoffnung, dass EHDS auch Deutschland bezüglich der elektronischen Patientenakte nach vorn bringen kann. Wichtig ist der Grundsatz, dass Patienten bzw. Bürger selbst Teil des Datenaustausches sind und aktiv an der Gesundheitsakte mitwirken. Beispielsweise kann er Messwerte eintragen oder auch, ob ein Medikament eingenommen wurde oder nicht.
esanum: Wann wird dieses Projekt umgesetzt sein? Wann wird es für Kolleginnen und Kollegen verfügbar sein?
Thun: 2025 soll der European Health Data Space funktionieren. Aber für Deutschland ist das nicht realistisch – jedenfalls nicht vollumfänglich. Bestandteile könnten allerdings durchaus funktionieren. Es wird erste Gesundheitsakten geben, wir haben das Forschungsdatenzentrum beim BfArM. Die Regularien des EHDS, also beispielsweise die Frage, wer auf welche Daten zugreifen darf, werden aktuell eingerichtet. Im Bereich der Universitätsmedizin kann man bereits mit den vorhandenen Daten datenschutzkonform forschen. Die Abrechnungsdaten aller gesetzlichen Krankenkassen werden gerade beim BfArM verfügbar gemacht. Die Freigabe für Forschungszwecke wird wohl länger als 2025 dauern.
esanum: Für welche Erkrankungen wird der European Health Data Space Daten sammeln?
Thun: Es werden alle Erkrankungen gemäß ICD-10 in der Akte verfügbar sein. Vor allem aber ist es wichtig, auch seltene Erkrankungen zu dokumentieren. Von den 8.500 Krankheiten, die einen Namen haben, sind in der ICD-10 nur ca. 300 abgebildet. Eigentlich ist seit diesem Jahr gesetzlich festgelegt, dass alle 8.500 Erkrankungen in der Orphanet-Terminologie dokumentiert werden. Das ist der erste Schritt, dass diese Erkrankungen überhaupt sichtbar gemacht werden. Bisher gibt es für 8.200 Krankheiten nicht mal eine Abrechnungsmöglichkeit. Für Betroffene eigentlich katastrophal. Jetzt kommt Orphanet endlich nach Deutschland. Aber damit sind noch lange nicht die Symptome dokumentiert, etwa für Abrechnungszwecke.
Gegenwärtig konzipieren wir an den Unikliniken die Daten-Integrationszentren, wo irgendwann mit Verzögerung auch die Daten für seltene Erkrankungen auftauchen. Aber auch die müssen erst einmal beginnen, die Orphanet-Terminologie zu verwenden, damit es überhaupt eine Vergleichbarkeit gibt.
esanum: Alle EU-Länder sind beteiligt, warum nicht gleich ein weltweites Register?
Thun: Wichtig sind weltweite IT-Standards, um den Datenaustausch erst zu ermöglichen. Erste Schritte sind bereits gemacht. Die Technologie dahinter ist FHIR (Fast healthcare Interoperability Ressources) von der Organisation Health Level 7, welche ich in Deutschland leite. Damit arbeitet auch die WHO in ihren Projekten. Wir haben ein International Patient Summary zusammengestellt – also die technische Umsetzung der Gesundheitsakte. Wir haben einen Standard erstellt, der inzwischen weltweit im Einsatz ist und der die Daten erst austauschbar macht. Deutschland stellt sich hier gerade auf und geht Schritte in Richtung International Patient Summary, beginnend mit Krankenhausdaten. Die Ukraine ist da schon weiter, genauso wie Israel oder Estland und Finnland. Diese Länder, in denen es besondere Gefahren gibt, sind sehr schnell in der Technologieentwicklung und setzen meist auf Cloud-Lösungen.
esanum: Welche Rolle spielen Datenschutzbedenken bei der Umsetzung des Projektes?
Thun: Der ist natürlich sehr wichtig und natürlich auch ausdrücklich im EHDS adressiert. Es geht in dem Projekt sehr viel um juristische Inhalte des Datenschutzes. Grundsatz ist: Patientenschutz mit Datenschutz. Und das ist auch umsetzbar.
Seit 2008 findet jedes Jahr Ende Februar der weltweite Tag der seltenen Erkrankungen statt. esanum begleitet den Tag und berichtet nicht nur über aktuelle Themen, sondern auch über mögliche Symptomkomplexe, Diagnostik, Therapieansätze und Orphan Drugs zur Behandlung von seltenen Krankheiten. Weitere Beiträge finden Sie im Themenspecial zum Rare Disease Day.