Wir leben in einem Zeitalter globaler Krisen. Die Weltfinanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Corona-Krise, die Klima-Krise: sie alle wirken sich auf die Gesundheit der Bevölkerung aus und haben Anteil an den Entwicklungen im Bereich der psychischen Erkrankungen, die mittlerweile auch als Krise bezeichnet werden: als Global Mental Health Crisis.
Man könnte also von einer Intersektionalität der Krisen sprechen, und das ist auch deswegen ganz passend, weil vor allem Personen- und Bevölkerungsgruppen, die sowieso schon marginalisiert und diskriminiert werden, besonders darunter leiden.
Allein die Tatsache, dass wir im globalen Norden von Krisen sprechen, sagt eigentlich alles. Es markiert unsere privilegierte Position. Es heißt nämlich, dass wir noch immer von einem relativen Zustand der Stabilität und Kontinuität ausgehen, der durch Krisen erst erschüttert wird. Diejenigen, die in den sogenannten Krisengebieten aufgewachsen sind, erfahren diese gar nicht als solche und würden sie auch nicht so nennen. Für diese Menschen ist die Krise Alltag. Normalzustand. Sie leben mit der alltäglichen Ungewissheit ihrer Existenz und Versorgung.
Obwohl auch in der pandemischen Gegenwart wieder diejenigen am schwersten von den direkten und indirekten COVID-19-Folgen betroffen sind, die zu den schwächeren Mitgliedern der Weltbevölkerung gehören - Kinder, Flüchtlinge und Migranten, LGBTQI+-Personen, Wohnungslose, alte Menschen, Arme - hat sie doch auch den globalen Norden schwer erschüttert. Dass die Global Mental Health Crisis gerade zu diesem Zeitpunkt ein international so beachtetes Thema wird, kommt daher nicht von ungefähr.
So haben wir uns in der Redaktion für ein Themenspecial zur psychischen Gesundheit entschieden und fassen hier auch Themen an, die unbequem und teilweise schwer verdaulich sind: Sexueller Kindesmissbrauch boomt weltweit durch alle sozio-kulturellen Milieus hindurch und erschafft eine globale Generation schwer traumatisierter Überlebender - während zahllose Kinder und Heranwachsende die Folgen der Gewalt nicht überleben. Sterben ist auch hierzulande mittlerweile zu sichtbar geworden, um noch unbemerkt in diskrete Räume verbannt zu werden. Psychische Erkrankungen im Arbeitsumfeld sind fast Regel, statt Ausnahme. Es zeigt sich, dass die psychischen Auswirkungen der letzten anderthalb Jahre auch in den Familien und Freundeskreisen der Gut- und Besserverdienenden, in der Mitte unserer Wohlstandsgesellschaft, deutlich zu spüren sind. Die Psyche des globalen Nordens befindet sich im Krisen-Modus.
Das hat etwas Gutes, denn durch weltweite Vernetzung, Informationsaustausch und hoch spezialisierte Fachkräfte können Hilfsangebote von enormem Ausmaß und großer Reichweite geschaffen werden. Das ändert noch nichts an der ungleichen Verteilung von Geld, Gütern, Impfstoffen, Bildung oder am nicht vorhandenen Zugang zu medizinischer Versorgung, Hilfs- und Therapieangeboten. Aber wir können die Probleme vieler durch die Möglichkeit virtueller öffentlicher Diskurse ansprechen und verbreiten, die Diskussion darüber zugänglich und sichtbar machen. Wir müssen es nur tun. Denn erfahrungsgemäß finden Entstigmatisierung und Entmarginalisierung dann statt, wenn die mehrheitliche Mitte sich angesprochen fühlt, weil sie von einem Problem betroffen ist und es nicht mehr als Randgruppen-Phänomen verwerfen kann.
Psychische Gesundheit ist wichtig. Sie ist ebenso wichtig wie physische Gesundheit und steht außerdem in Wechselwirkung mit dieser. Deshalb müssen wir darauf aufmerksam machen und diejenigen, die am schwersten betroffen sind, unterstützen. Spätestens jetzt, wo wir gemerkt haben, dass es jede und jeden von uns treffen kann.