Digitale Gesundheitsanwendungen bieten von Depression Betroffenen die Möglichkeit, die Psychotherapie begleitend zu unterstützen. Was es mit den verschiedenen Apps auf sich hat, für wen diese sich eignen und wie wirksam sie sind, erklärt uns Dr. sc. hm. Gwendolyn Mayer.
Beinah jede dritte Person in Deutschland erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression. Die meisten warten allerdings monatelang auf einen Therapieplatz. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) können Betroffenen helfen, die langen Wartezeiten zu überbrücken, aber auch die Psychotherapie begleitend zu unterstützen. Was es mit den verschiedenen Apps auf sich hat, für wen diese sich eignen und wie wirksam sie tatsächlich sind, erklärt uns Dr. sc. hum. Gwendolyn Mayer vom Unversitätsklinikum Heidelberg.
esanum: Frau Mayer, wie genau können DiGAs dabei helfen, besser mit Depressionen umzugehen?
Mayer: Die Digitalen Gesundheitsanwendungen unterstützen Menschen im Selbstmanagement. Konkret bedeutet das, dass eine gute DiGA individualisiert auf die Situation der Patient:innen eingeht, beispielsweise indem sich täglich nach der Stimmung und nach alltäglichen Ereignissen und Aktivitäten fragt. Nach einigen Tagen wird dann eine Übersicht über den Stimmungsverlauf der vergangenen Tage angeboten. So können Patient:innen nach möglichen Triggern suchen, die einen Stimmungsabfall erklären könnten. In der Fachsprache nennen wir dies "Mood Tracking". Es ist bekannt, dass gerade depressive Patient:innen dazu neigen, einen negativen Filter über ihr Gedächtnis zu legen. Im Rückblick erscheinen ihnen alle Ereignisse der letzten Tage gleichermaßen niedergedrückt. Durch das genaue Festhalten der Stimmung kann ihnen deutlich werden, dass durchaus auch Schwankungen aufgetreten waren und was diese ausgelöst haben könnte.
Außerdem bieten DiGAs Übungen zur Selbstreflexion oder zur Tagesstrukturierung. Gerade diese ist in einer Depression oft verloren gegangen. Durch digital geführte Kalender können Patient:innen positive Aktivitäten planen, die auf lange Sicht helfen können, aus einem depressiven Tal wieder herauszukommen. Nicht zuletzt bietet eine gute DiGA auch jede Menge Hintergrundinformation zum Erkrankungsbild. Patient:innen lernen: Ich bin nicht allein. Ein großer Prozentsatz der Menschen erkrankt mindestens einmal im Leben an einer Depression und es gibt viele Wege, diese zu behandeln!
esanum: In Bezug auf digitale Gesundheitsanwendungen zur Bekämpfung von Depressionen liest man häufiger von "kognitiver Umstrukturierung". Wie genau läuft dieser Prozess ab?
Mayer: Das ist ein Fachbegriff aus der Kognitiven Verhaltenstherapie, einer der großen Therapieschulen zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Bei der kognitiven Umstrukturierung geht es darum, automatische negative Gedankenkreisläufe wirksam zu unterbrechen und neu zu gestalten. Automatische Gedanken kennen wir alle: Wir haben etwas daheim vergessen und kommen zu spät zur Arbeit. Schon denken wir: "Das ist wieder typisch für mich, immer bin ich konfus." Derartige Gedanken sind völlig normal. Menschen, die in eine Depression gerutscht sind, können sich gegen die Übermacht ihrer automatischen Gedanken aber nicht mehr wehren. Das sind oft Botschaften, die sie schon lange mit sich herumtragen wie "Du bist nichts wert!", "Du schaffst das nie!" oder "Wer interessiert sich schon für dich?". Diese Gedanken laufen auf Autopilot, beeinträchtigen die Stimmung und müssen erst einmal entdeckt werden. DiGAs bieten dazu hilfreiche Übungen dazu, beispielsweise in Form von Selbstbeobachtungsprotokollen. Diese Gedankenmuster zu durchbrechen, tiefer liegende Überzeugungen offenzulegen und zu verändern ist dann aber Gegenstand einer Psychotherapie. Es ist unrealistisch zu erwarten, dass eine App oder ein Programm das leisten kann.
esanum: Könnten DiGAs der ärztlichen oder psychotherapeutischen Behandlung Konkurrenz machen oder sind die eher ergänzend zu verstehen?
Mayer: Ich persönlich sehe in DiGAs keine Konkurrenz zu einer echten menschlichen Beziehung. Sie können aber sinnvoll eingesetzt werden, wenn Menschen beispielsweise auf einen Therapieplatz warten und dringend schon Hilfe benötigen. Dies betrifft zum Beispiel derzeit Menschen in ländlichen Regionen, wo das Angebot an Psychotherapeut:innen oft nicht sehr dicht ist. Die Herausforderungen der COVID-19-Pandemie und der damit einhergehenden Kontaktbeschränkungen haben die Popularität von digitalen Hilfen bei psychischen Erkrankungen noch einmal erhöht.
Darüber hinaus werden DiGAs aber auch ergänzend zu einer Therapie eingesetzt. Wir sprechen dann von "Stepped Care". Das bedeutet, dass die Versorgung eines psychisch Erkrankten mit einigen Einheiten einer Psychotherapie beginnt, eine DiGA zwischendurch Zeiten überbrückt und die Ergebnisse dann wieder in der Therapie besprochen werden. Auch könnte eine DiGA als Vorbereitung für einen Aufenthalt in einer Klinik genutzt werden oder zur Rehabilitation.
esanum: Worin besteht der konkrete Nutzen dieser Anwendungen für Ärzt:innen und Therapeut:innen - inwieweit erleichtern sie die Behandlung?
Mayer: Das oben beschriebene "Mood Tracking" ist häufig ohnehin Teil einer psychotherapeutischen Behandlung, früher gab man Patient:innen Selbstbeobachtungsprotokolle in Papierform mit. Ein digitaler Zugang macht es gerade für jüngere Patient:innen leichter, die Stimmung tagesaktuell zu protokollieren. Auch Hausaufgaben wie etwa eine Übung zur kognitiven Umstrukturierung (siehe oben) können von Ärzt:innen und Therapeut:innen mitgegeben werden. Die Ergebnisse können dann in der nächsten Sitzung besprochen werden.
Ein anderer Vorteil ist in der Psychoedukation zu sehen: Hintergrundinformationen zur Erkrankung sind in einer DiGA in Form von Text oder Video hinterlegt und müssen von Ärzt:innen und Therapeut:innen nicht mehr erklärt werden. Allerdings ist hier auch Vorsicht geboten. Natürlich obliegt es auch trotz einer DiGA immer noch den Ärzt:innen und Therapeut:innen zu überprüfen, ob die Informationen auch angenommen und verstanden wurden.
esanum: Gibt es belastbare Daten, die die Wirksamkeit von Apps beim Umgang mit Depressionen belegen?
Mayer: Es erscheinen in regelmäßigen Abständen Meta-Analysen zu diesem Thema, die die Wirksamkeit belegen. Dazu muss man zweierlei wissen: Unterschieden wird zwischen den so genannten "guided" und "unguided interventions", also begleiteten und unbegleiteten Interventionen. Bei ersteren besteht innerhalb der App oder des Programms die Möglichkeit des direkten Kontakts zu einer/m Therapeut:in über Chat oder E-Mail. In Wirksamkeitsstudien sind diese den reinen Selbstmanagementprogrammen ohne Therapeut:innenkontakt überlegen. Eine aktuell in JAMA Psychiatry publizierte Meta-Analyse über 39 Studien konnte dies vor allem für Patient:innen mit einer mittelgradigen Depression belegen. Patient:innen mit leichten Symptomen können daher aber durchaus auch von unbegleiteten Programmen profitieren.
Zum anderen werden Wirksamkeitsstudien oft derart durchgeführt, dass eine Gruppe von Patient:innen die digitale Intervention erhält, während die andere noch auf die Intervention wartet. Wir sprechen hier von einer "Warteliste-Kontrollgruppe". Es ist nicht allzu erstaunlich, dass es Patient:innen nach einer digitalen Intervention besser geht als denen, die gar nichts erhalten haben. Gute Studien wählen von daher eine aussagekräftigere Kontrollgruppe, zum Beispiel eine Gruppe, die in derselben Zeit, in der die Interventionsgruppe die App testet, ein Online-Forum über Depression nutzt. Studien dieser Art sind seltener, aber die Wirksamkeit von Apps konnte hier durchaus gezeigt werden. Dem Vergleich mit einer zwischenmenschlichen, face-to-face-Psychotherapie halten digitale Anwendungen allerdings nicht stand.
esanum: Gibt es Kontraindikationen für die Benutzung digitaler Anwendungen bei Depressionen?
Mayer: Dazu gibt es leider noch wenig verwertbare Forschungsergebnisse. Klar ist aber, dass DiGAs eher von jüngeren und etwas gebildeteren Patient:innen verwendet werden und Menschen mit einem Migrationshintergrund oft nicht so gut damit zurechtkommen. Das hat mit dem sprachlichen Verständnis zu tun, das oft vorausgesetzt wird.
Eine aktuelle Studie in Psychiatry Research hat gerade bestätigt, dass in einer repräsentativen Stichprobe aus den USA vor allem Proband:innen weiblichen Geschlechts mit einem Jahres-Haushaltseinkommen über 75.000 USD und höherem Bildungsstand Gesundheits-Apps nutzen.
esanum: Wie unterscheiden sich gute von schlechten Apps?
Mayer: Wenn ich im App-Store meines Smartphones "Depression" eingebe, erhalte ich mehrere hundert Treffer mit Apps, die das Thema mentale oder psychische Gesundheit behandeln. Sie reichen von Stimmungstagebüchern über Anleitungen zur Selbsthypnose bis hin zu Meditations-Apps. Es spricht nichts dagegen, eine App als Unterstützung für eine Meditation zu nutzen. Allerdings sollte man sich davon eben keinen besonderen therapeutischen Wert bei einer behandlungsbedürftigen Depression erwarten.
Die Qualität einer App sollten Sie zunächst einmal nicht an der Anzahl der positiven Sternchen ablesen. Wichtig ist, sich über die Entwickler klar zu werden, die das Produkt anbieten. Diese stehen normalerweise im Impressum der jeweiligen Webseite. Qualitativ hochwertige Anwendungen sind von klinischen Fachexpert:innen entwickelt und in Studien auf ihre Wirksamkeit überprüft worden. Ein Blick in eine Wissenschaftsdatenbank mit einer einfachen Suchanfrage zur "App XY" lohnt immer. Zu prüfen ist weiter, ob die Anwendung auch im DiGA-Verzeichnis des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gelistet ist. Allerdings befindet sich dieses noch im Aufbau und enthält zum derzeitigen Augenblick (Stand: Oktober 2021) 23 Apps, davon richten sich 11 an psychische Themenfelder. Diese sind im Hinblick auf Qualität und Datenschutz geprüft worden.
Eine Minimalanforderung an eine gute App besteht im Krisenmanagement! In einer depressiven Episode kann es zu massiven Stimmungseinbrüchen kommen bis hin zu Suizidgedanken und konkreten Versuchen sich zu verletzen oder das Leben zu nehmen. Eine gute App sollte ein Notfallprogramm enthalten, das auf derartige Krisen reagiert und dann an eine Hotline verweist oder noch besser die Möglichkeit anbietet, zuvor persönliche Notfallkontakte zu hinterlegen.
Mein Rat an alle behandelnden Ärzt:innen lautet von daher: Probieren Sie jede App, die Sie verschreiben möchten, einige Tage selbst aus und tun Sie einmal so, als hätten Sie Suizidgedanken. Erst Ernstfälle wie diese zeigen Ihnen, ob Sie das Programm weiterempfehlen können oder nicht.
esanum: Was erachten Sie als die größten Chancen und Risiken bei der Anwendung von DiGAs zur Behandlung von Depressionen?
Mayer: Die größten Chancen von DiGAs für Patient:innen mit Depressionen liegen meines Erachtens auf zwei Ebenen: Auf einer globalen, gesellschaftlichen Ebene liegt die Chance ganz klar in der Entstigmatisierung des Themas. Das breite Angebot an Apps und Programmen gegen Depression zeigt, dass es eben jeden treffen kann und ein großer Hilfebedarf da ist. Unsere eigenen Arbeiten in Heidelberg haben hier gezeigt, dass die Hemmschwelle, ein Therapieangebot zu suchen, durch eine App oder DiGA möglicherweise sinken kann.
Auf der individuellen Ebene können DiGAs dabei helfen, depressive Patient:innen in ihrem Selbstmanagement zu unterstützen, ihre Eigenständigkeit zu fördern und auch fundiertes Hintergrundwissen zu vermitteln. Einige Wissenschaftler:innen sprechen hier von "patient empowerment". In dieser Eigenständigkeit liegt aber zugleich das größte Risiko: Patient:innen können sich gerade in einer Krise allein gelassen fühlen. Einige Themen lassen sich nicht über eine App erledigen, hinter mancher Depression steckt vielleicht eine traumatische Erfahrung oder es besteht zusätzlich eine weitere Erkrankung. Selbstreflexion mag online gestärkt werden, Heilung findet immer in der realen Begegnung statt.