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POP statt KOK: Kontrazeption in der Stillzeit – rechtzeitig beraten

Auch volles Stillen schützt nicht sicher vor einer erneuten Schwangerschaft, die „Stillpille“ mit Desogestrel schon – eine rechtzeitige Aufklärung in der gynäkologischen Praxis vorausgesetzt.

Die individuelle Kontrazeptionsberatung ist und bleibt eine der wichtigsten Herausforderungen in der gynäkologischen Praxis. Sprechen Sie mit Ihren schwangeren Patientinnen auch über die Verhütung nach der Entbindung? Eine adäquate Beratung findet auf der Wochenstation häufig nicht statt. Im Rahmen der postpartalen Kontrolluntersuchung nach 6–8 Wochen kann es dafür eventuell schon zu spät sein. Dass Aufklärungsbedarf besteht, beweist die Existenz zahlreicher Geschwisterkinder, deren Altersabstand ungewollt weniger als ein Jahr beträgt.

In wissenschaftlichen Beiträgen wird immer wieder auf das häufig unterschätzte Thema hingewiesen. So heißt es in einem aktuellen Übersichtsbeitrag zur Kontrazeption nach der Schwangerschaft: „Mit der effektiven und nahtlosen Bereitstellung eines Kontrazeptionsangebots nach der Schwangerschaft sind zahlreiche Herausforderungen verbunden, sogar in industrialisierten Ländern. Gleichwohl machen die klaren Vorteile deutlich, dass sich die Anstrengung lohnt.“1

Abwarten zwischen zwei Schwangerschaften lohnt sich in jedem Alter

Die WHO empfiehlt seit längerem einen Mindestabstand von zwei Jahren nach einer Lebendgeburt, um das Risiko unerwünschter maternaler und perinataler Ereignisse zu reduzieren.2 Die zugrundeliegende Datenbasis der WHO-Empfehlung stammt größtenteils aus Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen. Um die für die Familienplanung wichtige Frage nach dem optimalen Schwangerschaftsabstand auch für die Situation in Hocheinkommensländern zu klären, läuft gegenwärtig eine internationale Kohortenstudie, in die mehr als 18 Millionen Schwangerschaften einbezogen werden.3 Eine populationsbasierte Kohortenstudie aus Kanada hat kürzlich gezeigt, dass es sich für Frauen jeden Alters lohnt, eine Wartezeit von einem Jahr einzuhalten. Erfolgt die erneute Konzeption schneller, sind die Risiken für das Ungeborene erhöht, ab einem maternalen Alter von 35 Jahren auch jene für die Mutter.4

Stillen ist empfehlenswert ...

Das Stillen ist für nahezu alle Mütter empfehlenswert. Säuglinge sollten nach geltender Empfehlung 4–6 Monate lang ausschließlich gestillt werden, zahlreiche positive Einflüsse auf die Gesundheit des Kindes sind mittlerweile wissenschaftlich belegt.5,6 Zwar gibt es in Deutschland kein flächendeckendes nationales Stillmonitoring, dafür zeigen aktuelle Daten aus der KiGGS Welle 2 im Rahmen des RKI-Gesundheitsmonitorings: Fast 90 % der Mütter haben die Absicht zu stillen und 97 % von ihnen haben tatsächlich nach der Geburt ihres Kindes damit begonnen.7

Die Stillquoten für ausschließliches Stillen über mindestens 4 bzw. 6 Monate lagen bei den Geburtsjahrgängen 2012 bis 2016 bei 40 % bzw. knapp 13 %. Zwischen 2009/2010 und 2013/2014 sind die Prävalenzen für jegliches Stillen tendenziell angestiegen. Der Anteil der Mütter, die voll und ausschließlich stillen, hat sich in diesem Zeitraum nicht verändert, aber im Vergleich zu den Daten aus der SuSe-Studie von 1997/98 (33 % bzw. 10 %)8 etwas erhöht.

.. schützt aber nicht sicher vor erneuter Konzeption

Ohne Stillen ist mit einer Rückkehr der Fertilität innerhalb eines Monats nach Beendigung der Schwangerschaft zu rechnen und der frühestmögliche Start einer effektiven Kontrazeption angebracht.1 Allerdings ist auch auf die ovarielle Funktionsruhe, die durch eine vom Saugreflex ausgelöste Hyperprolaktinämie vermittelt wird, nur begrenzt Verlass. Die Laktations-Amenorrhö-Methode (LAM) bietet einen Verhütungsschutz von 98 %, wenn alle folgenden drei Kriterien erfüllt sind5,9:

Für den Gynäkologen ist das nicht neu, für unaufgeklärte Patientinnen schon, wie ein Blick in einschlägige Internetforen zeigt. Dort stoßen ratsuchende Frauen neben Empathie und durchaus sachdienlichen Hinweisen leider auch auf viel Halb- und Unwissen sowie subjektive, nicht selten auch ideologisch gefärbte Empfehlungen zu verschiedensten Themen und eben auch zur Verhütung in der Stillzeit.

POP statt KOK in der Stillzeit empfehlenswert

Gestagen-Monopillen (POP) verfügen über eine Zulassung für die postpartale Kontrazeption und werden in Deutschland als Mittel der Wahl angewendet. Ihre Effektivität und Sicherheit während der Stillzeit ist durch umfangreiche Evidenz belegt.5,9,10,11 Die niedrig dosierten Gestagene beeinträchtigen weder die Quantität oder Qualität der Muttermilch noch die Entwicklung des Kindes. Bei der 2015 erfolgten Neufassung der WHO-Empfehlung zur Kontrazeption gab es wesentliche Änderungen nur im Bereich der postpartalen Verhütung. Dabei erfolgte u. a. eine Verbesserung der Empfehlungskategorie für POP in der Anwendung bei stillenden Müttern innerhalb der ersten 6 Wochen post partum von 3 auf 2 („Nutzen überwiegt Risiko“; siehe Grafik).11

Die britische Faculty of Sexual and Reproductive Healthcare (FSRH) empfiehlt in ihrer 2017 aktualisierten Leitlinie zur Kontrazeption nach Schwangerschaft sogar zu jeglichem Zeitpunkt nach der Entbindung den uneingeschränkten Einsatz von POP bei stillenden Müttern (Kategorie 1).9

In der deutschen Leitlinie heißt es mit Bezug auf WHO und FSRH: „Da Gestagen-Mono-Präparate einen vergleichbaren Verhütungsschutz bieten wie kombinierte Präparate und ungünstige Blutungsmuster in der Stillzeit selten sind, sollten kombinierte hormonale Kontrazeptiva in der Stillzeit nicht eingesetzt werden, um mögliche Risiken für die kindliche Entwicklung weitestgehend auszuschließen.“5

Desogestrel: nicht nur „Stillpille“

Mit dem Begriff „Stillpille“ ist häufig die östrogenfreie Formulierung mit 75 µg Desogestrel (z. B. Desogestrel Aristo®) gemeint. Im Gegensatz zu herkömmlichen reinen Gestagen-Pillen entfaltet Desogestrel seine kontrazeptive Wirkung in erster Linie durch eine effektive Unterdrückung der Ovulation. Dadurch wird ein mit KOK vergleichbarer Pearl-Index erreicht. Ein weiterer Unterschied: Gelegentliche Verzögerungen der Einnahme von bis zu 12 Stunden beeinträchtigen den Kontrazeptionsschutz nicht.12

Allerdings werden unvorhersehbare Blutungsmuster als möglicher Begleiteffekt bei der Einnahme von POP beobachtet. In einer Anwendungsbeobachtung sank unter der Einnahme von Desogestrel der Anteil an Frauen mit Zyklusbeschwerden im Vergleich zur Situation vor der Schwangerschaft. Bei hoher Amenorrhoerate während der Stillperiode traten bemerkenswerterweise auch nach dem Abstillen bei nahezu 70 % der Frauen Blutungen nur selten oder gar nicht auf. Die durchschnittliche beobachtete Stillzeit dauerte 5 Monate, der Beobachtungszeitraum nach dem Abstillen 4 Monate.14

Fast die Hälfte von knapp 1.000 Anwenderinnen gab an, Desogestrel zukünftig weiter verwenden zu wollen. Als zentraler Punkt für die Entscheidung zur fortgesetzten Einnahme erwies sich die Akzeptanz des Blutungsmusters – und damit auch in diesem Fall die Relevanz einer ausführlichen Aufklärung durch den betreuenden Gynäkologen.

WHO-Empfehlung (2015)11

Situation COC/P/R POP DMPA LNG/ETG (Implantate)
Stillen

a) < 6 Wochen postpartum
b) ≥ 6 Wochen < 6 Monate
c) ≥ 6 Monate postpartum
 

4
3
2
 

2
1
1
 

3
1
1
 

2
1
1

COC/P/R = kombinierte orale Kontrazeptiva/Patch/Vaginalring, POP = progestogen-only pill, DMPA = -Medroxyprogesteronacetat, LNG = Levonorgestrel, ETG = Etonogestrel

Desogestrel: POP mit Ovulationshemmung:
  • 75 µg Desogestrel
  • Ovulationshemmung
  • 12-Stunden-Zeitfenster
  • hohe Amenorrhoe-Rate
  • schnelle Reversibilität
  • gute Effekte bei menstrueller Migräne

Referenzen:

  1. Glasier A et al. Contraception after pregnancy. Acta Obstet Gynecol Scand 2019. doi:10.1111/aogs.13627
  2. Marston C. Report of a WHO technical consultation on birth spacing. Geneva Switzerland: World Health Organization, 2007.
  3. Marinovich ML et al. Developing evidence-based recommendations for optimal interpregnancy intervals in high-income countries: protocol for an international cohort study. BMJ Open. 2019;9(1):e027941. doi:10.1136/bmjopen-2018-027941
  4. Schummers L et al. Association of Short Interpregnancy Interval With Pregnancy Outcomes According to Maternal Age. JAMA Intern Med 2018;178(12):1661-1670. doi: 10.1001/jamainternmed.2018.4696
  5. S3-Leitlinie Hormonelle Kontrazeption. Version 3.1, 2018. AWMF-Registernummer: 015/015. http://www.awmf.org/leitlinien/detail/II/015-015.html
  6. Abraham K, Flack S. Stillen in Deutschland – was wissen wir? Bundesgesundheitsbl 2018;61:909. https://doi.org/10.1007/s00103-018-2787-y
  7. Brettschneider A-K et al. Stillverhalten in Deutschland – Neues aus KiGGS Welle 2. Bundesgesundheitsbl 2018;61:920. https://doi.org/10.1007/s00103-018-2770-7
  8. Kersting M, Dulon M. Assessment of breast-feeding promotion in hospitals and follow-up survey of mother-infant pairs in Germany: the SuSe Study. Public Health Nutr 2002;5(4):547-52
  9. Faculty of Sexual and Reproductive Healthcare. FSRH guideline: contraception after pregnancy. 2017. https://www.fsrh.org/standards-and-guidance/documents/contraception-after-pregnancy-guideline-january-2017
  10. Phillips SJ et al. Progestogen-only contraceptive use among breastfeeding women: a systematic review. Contraception 2016;94:226-52
  11. WHO. Medical elegibility criteria for contraceptive use. 5th ed. Geneva, 2015. ISBN 9789241549158
  12. Fachinformation Desogestrel Aristo®, Stand: 12/2018
  13. Bachmann G, Korner P. Bleeding patterns associated with oral contraceptive use: a review of the literature. Contraception 2007;76:182-9
  14. Abou-Dakn M. Gestagenpille (Desogestrel) bei stillenden Frauen. Frauenarzt 2008;49(9):836-41

Abkürzungen:
DMPA = Depot-Medroxyprogesteronacetat
KiGGS = Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (im Rahmen des Gesundheitsmonitorings des Robert Koch-Instituts)
KOK = kombinierte orale Kontrazeptiva
POP = progestogen-only pill
RKI = Robert Koch-Institut
WHO = Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization)