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Kontrazeptionsberatung jenseits aller Hysterie: Es gibt viel zu tun!

Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche hat im Jahr 2017 in Deutschland nach längerem Abwärtstrend wieder zugenommen. Diese Tatsache ist Grund genug, den Fokus erneut und immer wieder auf eine gynäkologische Kernkompetenz zu legen: die umfassende und individuell optimierte Kontrazeptionsberatung.

Eine gute Nachricht vorweg: Im zweiten und dritten Quartal 2018 war laut Angaben des Statistischen Bundesamts eine Abnahme der Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland um -2,7 % bzw. -1,8 % zu verzeichnen. Im ersten Halbjahr 2018 hat sich das Gesamtvolumen insgesamt um -0,2 % reduziert. Noch im ersten Quartal 2018 waren die Zahlen erneut angestiegen, um 2,2% gegenüber dem Vorjahresquartal. Im Jahr 2017 waren 101.209 Abtreibungen registriert worden und damit ein Zuwachs um 2,5% gegenüber 2016 (n = 98.721).

Künftig kostenlose Kontrazeption bis zum 22. Lebensjahr geplant

Um das Thema Schwangerschaftsabbruch wird derzeit in der öffentlichen und berufspolitischen Diskussion mit Vehemenz gerungen. Dabei geht es vorrangig um den Paragrafen 219a des Strafgesetzbuchs, der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche untersagt. Auf Regierungsebene wurde mittlerweile ein Kompromiss ausgehandelt, der die aufgeheizte Debatte um das strittige Thema vorerst aber noch nicht zu beenden vermag.

Im Zuge der Neuregelung, welche noch nicht verabschiedet worden ist, sollen die Krankenkassen künftig die Kosten für orale Kontrazeptiva bis zum 22. Lebensjahr – und damit zwei Jahre länger als bisher – übernehmen. „Das hilft jungen Frauen, ungewollte Schwangerschaften zu vermeiden“, so Gesundheitsminister Jens Spahn. Dass eine solche Maßnahme tatsächlich hilfreich sein kann, wurde andernorts, wenn auch unter etwas anderen Rahmenbedingungen, bereits nachgewiesen. Durch das kostenlose Angebot an Kontrazeptiva der eigenen Wahl konnte in einer US-Metropole die hohe Rate von ungewollten Schwangerschaften und Aborten unter jungen Frauen deutlich reduziert werden.1

Hoher Anstieg an Abbrüchen unter 40- bis 45-Jährigen

In der berechtigten und teilweise sehr emotional geführten Debatte um den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen kommt das gemeinsame Streben aller Akteure nach einer weiteren Absenkung der immer noch hohen Zahl an ungewollten Schwangerschaften bisher dennoch zu kurz. Zumal es mit 7 % in der Altersgruppe der 40- bis 45-Jährigen zum höchsten Anstieg an Abbrüchen im Jahresverlauf 2017 kam.

Eine unrühmliche Rolle spielen die Presse- und sozialen Medien, die durch häufig einseitige und negativ dominierte Berichterstattung viele Anwenderinnen von hormonellen Kontrazeptiva verunsichern und unter Druck setzen. Am erhöhten Beratungsbedarf in der gynäkologischen Praxis ist das tagtäglich spürbar. Häufig besteht aber mangels Aufsuchen der Praxis gar nicht die Chance, den betroffenen Frauen und Mädchen beim Weiterführen oder Umstellen ihrer Verhütungsmethode auf gesicherter medizinischer und emotionaler Basis zu helfen. Noch vor dem Social-Media-Hype veranlasste vor gut zwei Jahrzehnten die Diskussion um das VTE-Risiko in Großbritannien viele Frauen zum Absetzen der Pille. Wissenschaftler gehen von rund 17.000 zusätzlichen Schwangerschaftsabbrüchen im Vergleich zum Vorjahr als Konsequenz der „Pillen-Hysterie“ aus.2

Effektive hormonfreie Verhütung ist möglich, aber nicht einfach ...

Die negativen Effekte der Medienberichterstattung zuungunsten der hormonellen Verhütung hat im März 2018 auch der Berufsverband der Frauenärzte (BFV) in einer Pressemitteilung moniert. Zudem wird in der Stellungnahme darauf hingewiesen, dass eine effektive hormonfreie Verhütung einer zeitintensiven Einarbeitung und Selbstbeobachtung bedarf. Die meisten Zyklus-Apps dürften als Verhütungsinstrument eher kontraproduktiv wirken und „Frauen geradewegs in unerwünschte Schwangerschaften führen“, so BFV-Präsident Dr. Christian Albring.

Als weiteren naheliegenden Grund für die Zunahme unerwünschter Schwangerschaften sieht der BFV die Herausnahme der „Pille danach“ aus der Rezeptpflicht bei ungenügender Beratungsleistung in den Apotheken. Dass eine Liberalisierung der postkoitalen Kontrazeption allein nicht die Rate an ungewollten Schwangerschaften reduzieren kann, lehren die Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern.3

Auf die Qualität des Beratungsgesprächs kommt es an – und dass es stattfindet!

In einer schottischen Untersuchung wurde bereits vor Jahren ermittelt, dass nur 43 % der Apotheker nach der Abgabe von Notfallkontrazeptiva die Frauen über die Notwendigkeit einer weiteren Kontrazeption berieten.4 Wichtiger als die berufspolitische Auseinandersetzung erscheint hier die weitere intensive Anstrengung zur Aufklärung in Praxen, Apotheken und Beratungsstellen. Gynäkologen sollten jeden Konsultationsanlass nutzen, um ihre Patientinnen bestmöglich über die Kontrazeption und auch die Notfallkontrazeption zu beraten.

Dass die Qualität des Arzt-Patientinnen-Gesprächs, wie zu vermuten, tatsächlich zu einer zuverlässigeren Verhütung beiträgt, haben unlängst kalifornische Wissenschaftler nachgewiesen. Bei Frauen, die die Qualität des Beratungsgesprächs als hoch einstuften, war die Chance, dass sie die gewählte, effektive Verhütungsmethode weiterhin anwandten, fast doppelt so hoch. Eine gelungene Gesprächseröffnung sowie das Verständnis für die Sicht der Patientin erwiesen sich dabei als wichtigste Komponenten einer bewussten patientenzentrierten Gesprächsführung5,6 (siehe auch Gesprächsleitfaden für die Konzeptionsberatung).

Referenzen:

  1. Peipert JF et al. Preventing unintended pregnancies by providing no-cost contraception. Obstet Gynecol 2012;120(6):1291-7
  2. Dillner L. Pill scare linked to rise in abortions. BMJ 1996;312(7037):996
  3. Segerer S. Notfallkontrazeptiva — Bilanz nach Wegfall der Verschreibungspflicht. gynäkologie + geburtshilfe 2017;22(5):34-8
  4. Glasier A et al. Community pharmacists providing emergency contraception give little advice about future contraceptive use: a mystery shopper study. Contraception 2010;82(6):538-42
  5. Dehlendorf C et al. Association of the quality of interpersonal care during family planning counseling with contraceptive use. Am J Obstet Gynecol 2016;215(1):78.e1-9
  6. Dehlendorf C et al. Development of a patient-reported measure of the interpersonal quality of family planning care. Contraception 2018;97(1):34-40

Abkürzungen:
VTE = venöse Thromboembolie