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Die digitale Front: Ärzte in sozialen Medien

Wir interviewen Ärztinnen und Ärzte, deren Arbeit, Aktivismus und Präsenz in den sozialen Medien Solidarität, aber auch Belästigung und Drohungen hervorgerufen haben. Die menschlichen Geschichten stehen im Zentrum dieser Interviewserie.

Erfahrungen aus ärztlichen Lebenswelten, jenseits des Medienrummels

Übersetzt aus dem Englischen

Die esanum Global Series ist eine Sammlung von Artikeln, die esanums deutsch-, italienisch-, englisch- und französischsprachige Redaktion zusammenbringt, um eine globale Perspektive auf die aktuellen Themen und Geschichten zu bieten, die das Leben von Ärzt:innen beeinflussen. In unserer ersten Serie "Ärzte und Ärztinnen in den Sozialen Medien, die digitale Frontlinie" interviewen wir Ärzte, deren tägliche Arbeit, Aktivismus oder Social-Media-Präsenz eine ganze Reihe von Reaktionen innerhalb ihrer eigenen Berufsgruppen, auf Medienplattformen und darüber hinaus ausgelöst haben. Solidarität, Belästigung, Ruhm und Drohungen sowie die menschlichen Geschichten hinter den Kontroversen stehen im Mittelpunkt dieser Interviewreihe.

Die Interviewserie ist eine Kollaboration der Redaktionsteams von esanum.deesanum.fresanum.it und esanum.com. Die jeweiligen Artikel bilden die Perspektive unserer Interviewpartnerinnen und -partner ab und stellen nicht notwendig die Meinung der Redaktion dar. Durch Übersetzungsprozesse kann es zu Einbußen im sprachlichen Ausdruck kommen, die im jeweiligen Original nicht vorhanden sind.

Das digitale Zeitalter

Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Das digitale Zeitalter hat eine neue Wirtschaft hervorgebracht, tiefgreifende Veränderungen bei Erstellung, Zugang und Verbreitung von Informationen und einen anhaltenden Wandel zwischenmenschlicher Beziehungen und Rollen. Durch immer mehr digitale Vernetzung weltweit entstehen nicht nur Vorteile und Chancen, sondern es gehen auch unerwünschte Begleiterscheinungen mit solchen Transformationen einher. 

Digitale Gesundheit

Alle Wirtschaftssektoren, Tätigkeiten oder Berufe sind mittlerweile abhängig von Informationstechnologien, dem Internet und digitalen Produkten oder Dienstleistungen. Auch der Gesundheitssektor und die Ärzteschaft sind von diesem Wandel betroffen. Die Anwendung von Apps, Wearables, Telemedizin1 und sozialen Medien hat neue Horizonte für die berufliche Zusammenarbeit, verbesserte Forschung und Entwicklung eröffnet. Die Auswirkungen sind im Medizinstudium, in der Praxis, der Arzt-Patienten-Beziehung und in der gesellschaftlichen Rolle von Ärzten zu spüren.

Der befähigte Arzt

Mit dem Aufkommen des digitalen Gesundheitswesens und der Veränderung der Arzt-Patienten-Beziehung verändert sich auch der Arztberuf selbst: So könnte das digitale Zeitalter auch zu befähigten Ärzten führen, die durch den Einsatz digitaler Technologien ihre Kenntnisse und Fertigkeiten untermauern und erweitern, ihr Wissen und die Genauigkeit ihrer Behandlungen verbessern und ihre Patienten so noch besser unterstützen können.

Der Aufschwung der sozialen Medien

Mit dem digitalen Zeitalter hat sich die Nutzung sozialer Medien in den letzten zehn Jahren weltweit konsolidiert. Sie haben sich zu einer wichtigen Triebkraft für die Beschaffung und Verbreitung von Informationen in verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft, Unterhaltung, Wissenschaft, Krisenmanagement und Politik entwickelt3, und zwar in einem Maße, dass beispielsweise in den USA "Heranwachsende täglich etwa 6 Stunden mit sozialen Medien verbringen und häufig mehrere Plattformen gleichzeitig nutzen".4 Die Popularität sozialer Medien ist zum universalen Kommunikationsinstrument geworden.5

Ärzte in den sozialen Medien

Die Digitalisierung verändert jedoch nicht nur den medizinischen Arbeitsplatz. Die Ärzteschaft selbst passt die Regeln für Arzt-Patienten-Beziehungen, kollegialen Umgang und die Terennung zwischen Berufs- und Privatleben an.

Das geht so weit, dass innerhalb der Ärzteschaft versucht wird, neue Regeln für eine Netiquette aufzustellen.6 Soziale Medien ermöglichen Ärzten, eine Marke aufzubauen, ihre Kompetenzen zu erweitern, Patienten und die Öffentlichkeit zu informieren, neue Patienten zu gewinnen und ihre Forschung zu verbreiten.7 In dem Maße, in dem Ärzte sich engagieren, entstehen digitale Ökonomien, in denen einige Ärzt:innen zu Meinungsbildnern, Influencern und Superstars werden.

Anders als die TV-Persönlichkeiten unter den Ärzt:innen, die sich während des Booms des Kabelfernsehens in den 1980er und 1990er Jahren vor allem in der englischsprachigen Welt entwickelt haben, bieten die sozialen Medien Ärzt:innen nicht nur die Möglichkeit, für ihre medizinische Praxis zu werben oder mit Kolleg:innen zu interagieren. Viele haben in den sozialen Medien eine zentrale Rolle übernommen, um "Fehlinformationen zu bekämpfen, indem sie verantwortungsvolle Medizin fast so aufregend klingen lassen wie die zahlreichen medizinischen Verschwörungstheorien, übertriebenen Behauptungen und Schlangenölversprechen, die sich im Internet schnell verbreiten".8

Mit der Entwicklung sozialer Netzwerke treten auch die Schattenseiten des "digitalen Ökosystems" zutage, da Gesellschaften weltweit mit sogenannten Fake News, alternativen Fakten, Echokammern, Desinformation und wissenschaftsfeindlichen Gruppen konfrontiert sind, die um Sichtbarkeit kämpfen, die öffentliche Politik verändern, die öffentliche Meinung monopolisieren und den 24-Stunden-Nachrichtenzyklus zur Verbreitung ihrer Botschaften stürmen. In diesem Zusammenhang findet sich die Ärzteschaft an einer neuen Frontlinie wieder, in der Angriffe und Belästigungen zunehmen,9 da sich ein neues kybernetisches Schlachtfeld zwischen Wissenschaft und Glauben entwickelt.

Die digitale Welt, mit all ihren positiven Möglichkeiten für Wissen, Zusammenarbeit und Austausch, hat auch ihre hässlichen Seiten gezeigt. Und die sozialen Medien sind zu einem der Bereiche geworden, in denen Ärzt:innen zu Zielscheiben und Hauptakteuren in Konflikten über Wissenschaft, Politik, Glauben, Fakten oder Angst geworden sind. Eine Studie "ergab, dass jeder vierte Arzt berichtet, in sozialen Medien persönlich angegriffen zu werden, u. a. durch negative Bewertungen, gezielte Belästigungen und Bedrohungen bei der Arbeit und die Veröffentlichung seiner persönlichen Daten. Einige Angriffe waren besonders beunruhigend, wie Vergewaltigungs- und Todesdrohungen", so die Autoren.10

Ärzte an vorderster Front

Doch die Angriffe auf Ärztinnen und Ärzte sind nicht neu. Einschüchterung, Sündenbock-Denken, Gewalt oder Bedrohung von Mediziner:innen gab es schon lange. In der Tat finden sich bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Berichte über Vorfälle, bei denen Ärzt:innen zu Sündenböcken politischer Auseinandersetzungen12 und zu Zielscheiben in Zeiten sozialer Umbrüche13, militärischer Kriege oder gesundheitlicher Katastrophen wurden.

Das Erlebte in eigenen Worten

Vor diesem Hintergrund hat esanum vier Interviews mit Ärztinnen und Ärzte geführt, deren tägliche Arbeit, Aktivismus oder Präsenz in den sozialen Medien eine ganze Reihe von Reaktionen innerhalb ihrer eigenen Berufsgruppen, Medienplattformen und darüber hinaus ausgelöst haben. Im Mittelpunkt dieser Interviewreihe stehen die menschlichen Geschichten hinter den Kontroversen.

Aus Deutschland interviewen wir Kristina Hänel, eine der bekanntesten Ärztinnen des Landes. Ihre klare Haltung zum Thema Abtreibung und ihr Kampf gegen das Verbot der Werbung für Schwangerschaftsabbrüche im Bürgerlichen Gesetzbuch (das die Veröffentlichung von Informationen über Schwangerschaftsabbrüche regelt) haben ihr nicht nur Bekanntheit, sondern auch Anfeindungen eingebracht. Sie wurde und wird von Abtreibungsgegnern angefeindet, belästigt und erhält sogar Morddrohungen. Sie spricht darüber, wer ihre Feinde und wer ihre Unterstützer sind, wie sie gelernt hat, mit Stress umzugehen und welchen Rat sie jungen Ärzt:innen geben würde, die sich möglicherweise in ähnlichen Situationen befinden, wie sie sie im Laufe ihrer jahrelangen Arbeit als Ärzte-Aktivistin erlebt hat.

Das zweite Interview führen wir mit dem italienischen Arzt Dr. Salvo Di Grazia, der im Internet unter seinem Spitznamen "MedBunker" bekannt ist. Sein Blog ("MedBunker - Le scomode verità", zu Deutsch: Unangenehme Wahrheiten) und seine Präsenz in verschiedenen sozialen Netzwerken haben ihn zu einem Bollwerk zur Verteidigung von Medizin und wissenschaftlichen Methoden gegen Angriffe der Alternativmedizin, pseudomedizinischer Praktiken und Fake News gemacht. Dr. Di Grazia ist Gynäkologe und schreibt seit mehr als zehn Jahren einen Blog, der sich mit der Entlarvung pseudomedizinischer Praktiken und Gesundheitsmythen befasst, wobei er sich immer wieder mit Fragen der Homöopathie und Impfungen befasst.

Wir erzählen auch die Geschichte des französischen Arztes Dr. Mathias Wargon, der als Notarzt tätig ist und sich mehrmals am Tag auf Twitter zu Wort meldet. Seit er eine Patronenhülse erhalten hat, sträubt sich seine Sekretärin, seine Post zu öffnen. Da seine Frau (Emmanuelle Wargon) Ministerin in der derzeitigen französischen Regierung ist, wird er von der extremen Linken als Anhänger des "Macronismus" betrachtet, während die extreme Rechte ihre eigenen Gründe hat, ihn zu verabscheuen: Er ist Jude, er kritisiert keine Muslime und arbeitet täglich mit Menschen mit Migrationshintergrund in seinem Krankenhaus im Departement Seine-Saint-Denis, nordöstlich von Paris, das zu den ärmsten in Frankreich gehört. Die Verschwörungstheoretiker hassen ihn als Arzt und Wissenschaftler und seine ablehnende Haltung gegenüber der Homöopathie hat ihm noch mehr Feinde eingebracht.

Unser letzter Artikel in dieser Reihe handelt von Dr. David Gorski aus den USA, einem chirurgischen Onkologen, der sich auf Brustkrebs spezialisiert hat. Er ist ein starker Verfechter der evidenzbasierten Medizin und bekannt für seine Kritik an der Alternativmedizin, seinen entschiedenen Widerstand gegen die Anti-Impf-Bewegung und sein digitales Engagement gegen Desinformation zu medizinischen und wissenschaftlichen Themen. Diese Arbeit hat ihn mit Angriffen von Anti-Wissenschaftsgruppen, Impfgegnern, und Neo-Nazis konfrontiert.

Referenzen

  1. FDA. 09/22/2020. Digital healthcare: What is digital health? https://www.fda.gov/medical-devices/digital-health-center-excellence/what-digital-health
  2. Mesko B, Győrffy Z. The Rise of the Empowered Physician in the Digital Health Era: Viewpoint. J Med Internet Res. 2019;21(3):e12490. Published 2019 Mar 26. doi:10.2196/12490 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6454334/
  3. Stieglitz, S.; Mirbabaie, M.; Ross, B.; Neuberger, C. Social media analytics–Challenges in topic discovery, data collection, and data preparation. Int. J. Inf. Manag. 2018, 39, 156–168.
  4. Vannucci, A.; Ohannessian, C.M.; Gagnon, S. Use of Multiple Social Media Platforms in Relation to Psychological Functioning in Emerging Adults. Emerg. Adulthood 2019, 7, 501–506.
  5. Hruska, J.; Maresova, P. Use of Social Media Platforms among Adults in the United States—Behavior on Social Media. Societies 2020, 10, 27. https://doi.org/10.3390/soc10010027
  6. The General Medical Council. Doctors' use of social media. https://www.gmc-uk.org/ethical-guidance/ethical-guidance-for-doctors/doctors-use-of-social-media/doctors-use-of-social-media
  7. Kevin B. O'Reilly (News editor). APR 17, 2019. American Medical Association. 5 reasons why physicians should use social media professionally. https://www.ama-assn.org/practice-management/career-development/5-reasons-why-physicians-should-use-social-media
  8. Abby Ohlheiserarchive. April 26, 2020. MIT Technology Review. Doctors are now social-media influencers. They aren’t all ready for it. https://www.technologyreview.com/2020/04/26/1000602/covid-coronavirus-doctors-tiktok-youtube-misinformation-pandemic/
  9. Pendergrast TR, Jain S, Trueger NS, Gottlieb M, Woitowich NC, Arora VM. Prevalence of Personal Attacks and Sexual Harassment of Physicians on Social Media. JAMA Intern Med. 2021;181(4):550–552. doi:10.1001/jamainternmed.2020.7235
  10. Kristin Samuelson. January 04, 2021. NORTHWESTERN NOW. One in four doctors attacked, harassed on social media. https://news.northwestern.edu/stories/2021/01/doctors-attacked-on-social-media/
  11. McKay D, Heisler M, Mishori R, Catton H, Kloiber O. Attacks against health-care personnel must stop, especially as the world fights COVID-19. Lancet. 2020;395(10239):1743-1745. doi:10.1016/S0140-6736(20)31191-0 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7239629/
  12. A Gordon. Why doctors are becoming society's scapegoats . Physicians Manage. 1978 Feb;18(2):23-5, 29-30.
  13. Nancy Y. Hoffman, PhD. April 3, 1972. The Doctor as Scapegoat. A Study in Ambivalence. JAMA. 1972;220(1):58-61. doi:10.1001/jama.1972.03200010044007