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Krank oder gesund? Man müsste das subjektive Erleben viel ernster nehmen

Was bedeutet "gesund" eigentlich? Über die Weiterentwicklung des Gesundheitsbegriffs sprach esanum mit Medizinethiker Prof. Giovanni Maio.

Was bedeutet Gesundheit eigentlich? 

esanum: Prof. Maio, warum ist die Definition von Gesundheit und Krankheit eigentlich manchmal gar nicht so klar und einfach und warum ist es wichtig, sich darüber Gedanken zu machen?

Prof. Maio: Gesundheit ist ein sehr anspruchsvoller Begriff, weil von ihm eine ordnende Funktion erwartet wird, die er oft gar nicht einlösen kann. Er ist sehr anspruchsvoll, weil er in sich den Anspruch auf etwas Übergreifendes und auf etwas Verallgemeinerndes enthält. Gleichzeitig aber hat der Begriff unweigerlich mit subjektivem Empfinden und mit gesellschaftlichen Urteilen zu tun, ohne darin aufgehen zu können. Dieses Spannungsfeld zwischen objektivem Anspruch, subjektiver Bedeutung und sozialer Konstruktion macht aus dem Gesundheitsbegriff einen vielseitig verwendbaren Begriff. Gleichzeitig verspricht man sich sehr viel vom Begriff der Gesundheit. Denn aus ihm sind Ansprüche und politische Forderungen abzuleiten. Dies gilt in noch verstärktem Maße für den Begriff der Krankheit. 

esanum: Welche Definition ist für Sie schlüssig? Was ist also Krankheit? Und was dagegen Gesundheit?

Prof. Maio: Krankheit ist ersteinmal ein normativer Begriff, mit dem ein Aufforderungscharakter verbunden ist. Allein in dem Begriff der Krankheit wird implizit die Unerwünschtheit mit transportiert. Ferner ist Krankheit ein Legitimationsbegriff. Mit ihm werden Ansprüche auf Behandlungsmaßnahmen legitimiert und Ansprüche auf Entlastung. Gesundheit hat grundsätzlich mit Entwicklungspotential zu tun, mit der Fähigkeit, das Widrige zu bewältigen, sowohl physisch als auch psychisch. Gesundheit muss man als eine Grundbefähigung betrachten, sich zu entwickeln und auch das Widrige zu meistern. Gesundheit ist daher weniger ein Zustand als vielmehr eine Grunddisposition, die sich gerade in Krisen zeigt.

Vorsicht bei prädiktiven Tests

esanum: Wir verfügen über immer mehr diagnostische Testmöglichkeiten, wie etwa Gentests oder Virentests.  Wo sehen Sie die Grenzen oder sogar Gefahren der Aussagekraft dieser Daten? 

Prof. Maio: Selbstverständlich kann es eine Hilfe sein, prädiktive Tests zu machen, aber in der Regel herrscht eine übersteigerte kollektive Erwartung an die Prädiktion, und es wird nicht hinlänglich bedacht, dass gerade bei spätmanifestierenden Erkrankungen die prädiktiven Tests eine psychisch labilisierende Wirkung entfalten können. Grundsätzlich bedeuten die Tests eine Entzeitlichung der Krankheit, weil sie die zukünftig auftretende Krankheit ganz in die Gegenwart hineinholen, und damit erfolgt eine Vorwegnahme der Zukunft mit der möglichen Konsequenz einer vorgezogenen Verschlechterung der Befindlichkeit. Bei unbedachter Handhabung der Tests geht von ihnen eine Gefahr des Verlusts der Unbefangenheit einher. Man muss daher immer eine Balance finden zwischen Zukunftsvorsorge und dem unbefangenen Leben in der Gegenwart. 

esanum: Krankheit kann ja physische und psychische Ursachen haben – und beides hängt miteinander zusammen. Werden die psychischen Aspekte bei uns eher unterschätzt?

Prof. Maio: In jedem Fall, und dies sowohl von den Ärztinnen und Ärzten als auch von den Patienten selbst. Das hat fatale Folgen, denn das führt zum Beispiel bei vielen Schmerzpatienten dazu, dass sie eine Odyssee durchlaufen durch viele Arztpraxen, auf der Suche nach einer somatischen Bestätigung ihrer Schmerzen. Solange sie diese somatische Entsprechung nicht haben, fühlen sie sich nicht ernst genommen. Und hier bedarf es einfach eines Umdenkens. Schmerzen können eine psychische Ursache haben, die es anzuerkennen gilt, sowohl vom System als auch von den Patienten und von der Bevölkerung allgemein. Man müsste das subjektive Erleben viel ernster nehmen und mehr als bisher anerkennen, dass es Leiden ohne objektive Befunde gibt und dass dieses Leiden ernst genommen werden muss; der chronische Schmerz ist ein eindrückliches Beispiel dafür.

Individuelle Wahrnehmung von Krankheit ernstnehmen 

esanum: Kann ich vielleicht sogar selbst mitbestimmen, ob ich gesund oder krank bin – indem  ich meiner Wahrnehmung traue?

Prof. Maio: Die eigene Wahrnehmung ist natürlich von großer Bedeutung. Wir sollten auch Menschen ernstnehmen, die von sich aus sagen, sie leiden und auch anerkennen, dass sich zu dem Leiden nicht immer ein somatisches Korrelat finden lässt. Nur so können wir eine zu starke Biologisierung der Gesundheit verhindern. Die Herausforderung besteht darin, aus der Anerkenntnis der psychischen Ursache keine Beliebigkeit entstehen zu lassen in der Verwendung der Begriffe von Gesundheit und Krankheit. Um gehaltvoll von diesen Begriffen sprechen zu können, müssen wir subjektives Befinden mit gesellschaftlichen Übereinkünften zusammenbringen. Man muss sich eben in der Gesellschaft darüber verständigen, welche Abweichung vom statistischen Mittelwert einen Krankheitswert zugesprochen bekommt und welche nicht.

Das zeigt auf, dass diese Begriffe weder nur naturalisiert noch nur subjektiviert werden dürfen. Gesundheit ist kein rein subjektiver Begriff, mit ihm stellen wir den Anspruch auf eine Verallgemeinerbarkeit, auf eine gesellschaftliche Akzeptanz. Das heißt also, dass die Gesellschaft Gesundheit mitbestimmt. Somit ist Gesundheit kein rein subjektives, sondern ein intersubjektiv ausgerichtetes Wort. Um von Gesundheit sprechen zu können, muss eben eine Einigkeit zwischen dem einzelnen Subjekt und der Gesellschaft gefunden werden, was nichts anderes heißt, als dass Gesundheit in bestimmter Weise intersubjektiv kontrollierbar sein muss.

Über Prof. Giovanni Maio

Prof. Dr. med. Giovanni Maio ist Mediziner, Philosoph und Universitätsprofessor für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Er befasst sich mit den ethischen Grenzen der Ökonomisierung und der Technisierung der Medizin und stellt das Bild von Gesundheit und Krankheit der modernen Medizin in Frage.