Gegen viele besorgte Bedenken seiner Bürger hat der Landkreis Sigmaringen auf der schwäbischen Alb geschafft, was vielen Regionen in Deutschland noch bevorsteht: Die Schließung von zwei seiner drei Krankenhäuser. Neben ökonomischen Erwägungen wichtigster Grund für die Konzentration an einem Standort seien Struktur und Leistungsqualität gewesen, so die Landrätin und Aufsichtsratsvorsitzende der SRH Kliniken im Landkreis Sigmaringen, Stefanie Bürkle.
Betroffen von der Schließung waren zwei kleine Häuser mit je 50 und 70 Betten. Eine Analyse des Casemix-Index dieser Klein-Hospitäler habe ergeben, dass sie eigentlich "die verlängerte Werkbank der niedergelassenen Ärzte waren", wenig attraktiv für junge Ärzte, die an Spezialisierung interessiert seien, die aber im Notfall noch nicht über die erforderliche Berufserfahrung für eine sichere Versorgung verfügten.
Für den Mediziner und Gesundheitsökonomen Professor Reinhard Busse von der TU Berlin, der derzeit mit einer Expertenkommission die Bundesregierung bei der Arbeit an einer Krankenhausreform begleitet, ist der Landkreis Sigmaringen den logischen und richtigen Weg gegangen. Bei 130.000 Einwohnern sei beispielsweise pro Tag mit einem Herzinfarkt zu rechnen; diese Patientinnen Patienten auf drei Kliniken zu verteilen, führe zu qualitativ inadäquater Versorgung und binde viel zu viel Personal.
Die klare Empfehlung von Busse: Bündelung der Kapazitäten, Abbau der Betten, Fokussierung auf diejenigen Patienten, die tatsächlich eine stationäre Versorgung benötigen – und damit einhergehend eine Verbesserung der Relation von Ärzten und Pflegekräften zu Betten und zu versorgenden Patienten. Die Forderung nach noch mehr Personal verfestige die Ineffizienz und sei auch nicht realisierbar.
Ähnlich sieht das Professor Jan Steffen Jürgensen; der Internist und Master of Business Administration ist ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Klinikums Stuttgart. Ein Haus der Maximalversorgung mit 2300 Betten, 3000 Pflegekräften, 1000 Ausbildungsplätzen. Entstanden sei das Klinikum aus einer Serie von Fusionen nicht mehr effizienter Einheiten, das heute mit ambulanten Behandlungszentren, etwa in der Onkologie, und Tageskliniken strukturell ganz gut aufgestellt sei. Dennoch beklagt auch Jürgensen eine Fehlsteuerung von Patienten, die unnötig in die stationäre Versorgung verbracht werden.
Welche Dimension die Fehlsteuerung von Patienten in Deutschland angenommen hat – wo die Zahl stationär aufgenommener Patienten entgegen dem internationalen Trend noch weiter steigt – verdeutlichte Busse am Beispiel der Onkologie, einem der ressourcenintensivsten Leistungsbereiche der Medizin: Jährlich werden hierzulande zwei Millionen Krebskranke stationär behandelt; viermal im Jahr werde jeder Krebspatient stationär aufgenommen – das Ausland komme im Schnitt mit der Hälfte der Krankenhausbehandlungen aus.
Sosehr die Zustandsbeschreibungen und auch die Reformoptionen zwischen Wissenschaftlern, Klinikchefs und Kassenmanagern übereinstimmen – es bleiben offene Fragen: Die Patienten, die derzeit medizinisch nicht indiziert in Krankenhausbetten liegen und Pflegekapazitäten binden, verschwinden ja nicht einfach. Für sie müssen neuartige Versorgungsstrukturen zwischen den beiden Sektoren ambulant und stationär geschaffen werden. Dafür, so kritisierte der Vorstandsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, fehlten bislang Kriterien und ein bundesweit einheitlicher Rechtsrahmen, den Bedarf zu ermitteln.
Wie heikel das in der Praxis ist und welche Kosten eine Neustrukturierung nach sich zieht, machte Landrätin Bürkle deutlich: Aktuell werden 100 Millionen Euro in einen Klinikneubau im Landkreis Sigmaringen investiert. Längerfristig sind weitere 100 Millionen Euro in den Ausbau der ambulanten Onkologie und für tagesklinische Einrichtungen geplant. Der notwendige Ausbau der ambulanten Versorgung sei im Regelsystem keineswegs sichergestellt. Optionen seien Sonderverträge, die allerdings auch den Goodwill der Kassen bei der Finanzierung im Rahmen von Modellen erfordern, unter anderem auch, um Netzwerkbildungen niedergelassener Ärzte zu fördern. Im ersten Amtsjahr habe die Ampelkoalition nichts dazu geliefert, so Bürkle.
Weitere Beispiele seien die Notfallversorgung und Luftrettung, die im dünn besiedelten Sigmaringen nicht mehr sichergestellt sei. Einen Grund dafür sieht Busse in der deutschen Praxis, dass Hubschrauber bei Einbruch der Dunkelheit im Hangar verschwinden und nicht mehr eingesetzt werden. Anders sei die Praxis im Ausland, etwa in Skandinavien, wo der Weg zum nächsten Krankenhaus bis zu 500 Kilometer weit sein könne.
Trotz noch vieler offener Fragen bleibt eine gemeinsame Botschaft an Ärzte und Pflegekräfte: die Hoffnung auf den Einsatz von wesentlich mehr Arbeitskräften ist illusionär und beseitigt die Ineffizienzen nicht. Eines der wichtigsten Reformziele muss es sein, mit der vorhandenen Arbeitskraft der Ärzte und der Pflege viel sparsamer und schonender – also zielgerichteter – umzugehen.