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Digitale Gesundheit und der Nutzen für die Umwelt

Digitale Technologien könnten dazu beitragen, den ökologischen Fußabdruck des Gesundheitssektors zu verringern. Doch eine Methode zur Bewertung der Vorteile fehlt bisher.

Gesundheitssektor trägt Mitverantwortung für den Klimawandel

Übersetzt aus dem Französischen

Der globale ökologische Fußabdruck des Gesundheitssektors lässt sich bereits heute abschätzen: Weltweit sind 5% der menschlichen Treibhausgasemissionen (THG, wie CO2, Methan, Ozon, Lachgas, Halogenkohlenwasserstoffe usw.) den nationalen Gesundheitssystemen zuzuschreiben.In Deutschland stößt der Gesundheitssektor 57,5 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr aus, was 5,2 % der jährlichen THG-Emissionen entspricht.2 Im Vergleich dazu Frankreich mit 46 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr, was 8% der jährlichen THG-Emissionen entspricht.3 Die Verteilung der THG-Emissionsposten in beiden Ländern ist ähnlich wie in anderen westlichen Ländern.4,5

Der Einkauf von Medikamenten und medizinischen Geräten macht 33% bzw. 21% der THG-Emissionen aus. Die Reisen des Gesundheitspersonals und der Nutzenden machen etwa 15% aus, während der Betrieb der Gesundheitseinrichtungen (Wasser, Heizung usw.) für 10% der Emissionen verantwortlich ist.

Ein weiterer Aspekt ist die Freisetzung von Luftschadstoffen (Stickstoffdioxid, Ozon, Kohlenmonoxid, Schwefeldioxid und Feinstaub). Zu den Prozessen, bei denen diese Gase und Partikel freigesetzt werden, gehören die Herstellung und anschließende Entsorgung von Verbrauchsmaterial (Medikamente, Masken, Laborgeräte usw.), die Pflege von Patienten selbst sowie die mit der Pflege verbundenen Transporte und das Heizen von Gebäuden. Bei all diesen Tätigkeiten werden fossile Energieträger verbraucht, Chemikalien eingesetzt oder Abfälle verbrannt. 

Eine unmittelbare und globale Herausforderung  

Fast die gesamte Weltbevölkerung (99%) atmet täglich Luft ein, deren Verschmutzungsgrad die von der WHO als akzeptabel eingestuften Grenzwerte überschreitet.6 Die Luftverschmutzung allein ist weltweit der viertgrößte Risikofaktor für die Sterblichkeit.7,8 In Europa verursacht sie jedes Jahr durchschnittlich 350.000 Todesfälle.

Für das Fallbeispiel Frankreich wurden die Auswirkungen von Luftschadstoffen auf die Anzahl der Notaufnahmen einerseits und die erhöhte Sterblichkeit aufgrund von Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen andererseits in mehreren Studien dokumentiert.9,10,11

Um dem Grundsatz "primum non nocere" gerecht zu werden, müssen die Akteure des Gesundheitswesens Maßnahmen ergreifen, um die Umweltverschmutzung, die direkt durch ihre Praktiken verursacht wird, zu begrenzen. Die Versorgung einer alternden Bevölkerung, die anfällig für die Auswirkungen des Klimawandels und der Luftverschmutzung ist, die Verbesserung der Qualität der Gesundheitsversorgung und die Eindämmung des Anstiegs der Gesundheitskosten sind drei entscheidende Herausforderungen für den Fortbestand des Gesundheitssystems.

Gleichzeitig dürfen diese Einschränkungen nicht dazu führen, dass man aufgrund der damit verbundenen Umweltverschmutzung auf bestimmte Behandlungen verzichtet.

Das Gesundheitssystem zu überdenken bedeutet daher, die Gesamtbewertung der Gesundheitsversorgung im Hinblick auf "Co-Benefits" dringend neu zu definieren.12 Es muss untersucht werden, wie eine umweltfreundlichere Gesundheitsversorgung umgesetzt werden kann, die weiterhin den gesundheitlichen, sozioökonomischen und finanziellen Herausforderungen, denen der Sektor gegenübersteht, gerecht wird. Um diese verschiedenen Ansätze in einem grundsätzlich begrenzten Zeitrahmen unter einen Hut zu bringen, muss ein gemeinsamer Konsens mit möglichst vielen Akteuren geschaffen werden, der auch Akteure aus der Zivilgesellschaft einschließt.

Telemedizin und digitale Therapien 

Der exponentielle Anstieg der Zahl der Telekonsultationen und das globale Aufkommen der Telemedizin - durch digitale Therapien oder Lösungsansätze für Fachkräfte - liefern die ersten Beweise für die Effizienz dieser neuen Versorgungsmodalitäten. 

Über ihre Auswirkungen auf die Anzahl der vermiedenen Transporte hinaus müssen diese Modalitäten in einen Bewertungsrahmen eingebettet werden, damit alle ihre "positiven Externalitäten" berücksichtigt, diskutiert, validiert und aufgewertet werden können. Beispielsweise erleichtern Telekonsultationen die regelmäßige Überwachung von Risikopatienten und ermöglichen es ihnen, zu Hause zu bleiben und mehr Autonomie zu bewahren.13,14

Die Telmedizin hat seit der Covid-19-Pandemie weltweit einen starken Aufschwung erlebt. Während in Deutschland im Jahr 2020 knapp 459.000 Videosprechstunden durchgeführt wurden15, wurden in Frankreich 19 Millionen Telekonsultationen durchgeführt und von der Krankenversicherung erstattet.16 Die schnelle Verankerung der digitalen Kommunikation in den gängigen Gesundheitspraktiken beweist, dass die Einführung digitaler Lösungen die Gesundheitsgewohnheiten in sehr kurzer Zeit verändern kann.

Digitale Therapien, die auf demselben digitalen Medium basieren, könnten einen ähnlichen Weg wie die Telemedizin einschlagen, sobald der therapeutische Nutzen der Telemedizin erwiesen ist.

Beispiele hierfür sind Algorithmen zur Analyse von Symptomen und zur Erkennung von Rückfallrisiken, kognitive Verhaltenstherapieprogramme, bestimmte Geräte zur Fernüberwachung von Patienten mit chronischen Krankheiten, Systeme zur Anpassung der Behandlung, wie z. B. vernetzte Insulinpumpen, oder auch personalisierte Begleitprogramme zur Förderung von Verhaltensänderungen (körperliche Aktivität, Ernährung, Schlaf usw.). 

Da diese Therapien die Patienten proaktiv machen, dienen sie der Wiedererlangung der Selbstständigkeit. Sie beinhalten auch eine präventive Dimension, die darauf abzielt, die Zahl der Heilbehandlungen zu reduzieren. Schließlich können digitale Lösungen unnötige und/oder redundante Behandlungen (z. B. schlecht dokumentierte Untersuchungen) vermeiden und damit den CO2-Fußabdruck verringern.

Digitale Tools erneuern die Patientenerfahrung und die Analysefähigkeit der Ärzte und ermöglichen so eine Neugestaltung des Pflegeansatzes. Sie optimieren die Qualität der Versorgung, indem sie die Koordination der Akteure im Gesundheitswesen verbessern. Obwohl diese Wege vielversprechend erscheinen, bleibt es dennoch sehr schwierig, die Art und Weise zu quantifizieren, wie sie die Umweltauswirkungen der Gesundheitsaktivitäten begrenzen werden, da es an geeigneten Buchhaltungsinstrumenten mangelt.

Zu kurzsichtige Bewertungsmethoden für Umweltauswirkungen

Die Kombination aus Telemedizin und digitalen Therapien würde auf den ersten Blick eine Optimierung des Behandlungsverlaufs ermöglichen, indem bestimmte Handlungen oder Ereignisse, die einen THG-verursachenden Ressourcenverbrauch nach sich ziehen, einfach wegfallen. Dazu gehören unter anderem unnötige und/oder überflüssige Behandlungen, weil bereits bekannte Elemente nicht gespeichert oder historisiert werden (Röntgenuntersuchungen, biologisch-medizinische Untersuchungen usw.).

Wird dies jedoch ausreichen, um das Gesundheitssystem signifikant und dauerhaft weniger CO2 und andere Luftschadstoffe ausstoßen zu lassen? Eine wissenschaftliche Antwort auf diese Frage gibt es derzeit nicht. Es ist an der Zeit, eine solche Bewertung durchzuführen, bevor man die Verbreitung dieser Lösungen unterstützt, indem man davon ausgeht, dass sie per se positive Auswirkungen auf den CO2-Ausstoß haben. 

Die Schlüsselfrage für den Übergang zu einem nachhaltigen Gesundheitssystem besteht darin, Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Umweltauswirkungen und dem gesundheitlichen Nutzen zu schaffen. Letztendlich geht es darum, diese digitalen Lösungen auf den Prüfstand zu stellen und dann nach "Gewinnern" zu suchen, d. h. nach Geräten, die die Umweltauswirkungen verringern und gleichzeitig die gesundheitlichen und sozioökonomischen Vorteile erhalten oder verbessern. Eine solche Buchführung gibt es im Gesundheitssektor jedoch noch nicht, was dazu beiträgt, dass wir kollektiv kurzsichtig sind, was die tatsächlichen Vorteile der entwickelten Geräte angeht.

Einige Bemühungen sind bereits im Gange. Eine Version von "Bilan Carbone" wurde beispielsweise kürzlich für die größte Gruppe der öffentlicher Krankenhäuser (Assistance publique - Hôpitaux de Paris) angepasst.17 Diese Messmethode liefert eine genaue Bewertung der Treibhausgas- und Schadstoffemissionen, die mit bestimmten Tätigkeitsbereichen verbunden sind (Pflegeleistungen, Einkauf und Logistik im Zusammenhang mit Materialien, von den Pflegeeinheiten verbrauchte Energie, Mobilität der Nutzenden und des Personals usw.). Die CO2-Bilanz ist jedoch nicht dazu gedacht, eine quantifizierte Bewertung des Verhältnisses zwischen aktuellem CO2-Fußabdruck und prospektiver Reduzierung des CO2-Fußabdrucks aufgrund von Optimierungs- und Vermeidungspraktiken zu liefern. 

Um diese Aporie zu veranschaulichen, stellen wir uns die Umsetzung einer digitalen Präventionstherapie vor, an der eine Kohorte von Patienten beteiligt ist, die mit vernetzten Armbändern ausgestattet sind (die gesammelten Daten sollen eine individuelle Beratung ermöglichen). Der ökologische Fußabdruck, der mit der Herstellung und Versorgung der Armbänder sowie der Überwachung der Daten verbunden ist, könnte durch den gesundheitlichen Nutzen der Präventionsbemühungen (die nach n Jahren die Zahl der durchgeführten Heilbehandlungen reduzieren würden) mehr als ausgeglichen werden - oder auch nicht. In diesem Bereich sind Prognosen riskant, da es an einer geeigneten Methodik fehlt.

Die allgemeinen Methoden zur Bewertung der Umweltauswirkungen wie die CO2-Bilanz, das Life Cycle Assessment, die Input-Output-Analyse oder die Hybridmethoden4 beziffern zwar die mit bestimmten Geräten verbundenen Emissionen, berücksichtigen aber noch nicht die Verringerung der Schadstoffemissionen im Zusammenhang mit medizinischen Maßnahmen, die dank der Entwicklung einer präventiven Betreuung nicht mehr notwendig sind. Es scheint daher dringend notwendig zu sein, dass diese Methoden weiterentwickelt und an die Besonderheiten der Tätigkeiten im Gesundheitswesen angepasst werden, um eine neue Bewertungspraxis anzuleiten.

Telemedizin, digitale Therapien, digitale Koordinationsinstrumente etc.. All diese Geräte können dazu beitragen, unsere Gesundheitssysteme nachhaltiger zu gestalten. Wir müssen sie jedoch bewerten können, damit die Behörden ihre Vorteile im Hinblick auf den ökologischen Fußabdruck analysieren können, und zwar umfassend und vorausschauend. Die künftigen Bewertungsmethoden müssen die mittel- und langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung und die Patienten berücksichtigen. 

Kurzbiografie des Autors

Lucas Thiery ist der strategische Direktor des Digital Medical Hub der Assistance publique - Hôpitaux de Paris. Er ist außerdem Mitbegründer von MedInTechs (Messe für medizinische Innovationen unter der Schirmherrschaft von Emmanuel Macron) und des STANE Lab.


 

Referenzen:

  1. Manfred Lenzen, Arunima Malik, Mengyu Li, Jacob Fry, Helga Weisz, Peter-Paul Pichler, Leonardo Suveges Moreira Chaves, Anthony Capon, David Pencheon: The environmental footprint of health care: a global assessment. The Lancet Planetary Health, Volume 4, Issue 7 – 2020.
  2. Health Care Without Harm: Health care climate footprint report. Full Report and Appendix A: Tabulated national health care emissions for the 43 WIOD countries.
  3. The Shift Project: Décarboner la santé pour soigner durablement. Rapport final – Novembre 2021.
  4. Purohit A, Smith J, Hibble A.: Does telemedicine reduce the carbon footprint of healthcare? A systematic review. Future Healthc J. 2021 Mar;8(1):e85-e91. doi: 10.7861/fhj.2020-0080. PMID: 33791483; PMCID: PMC8004323.
  5.  Designing a net zero roadmap for healthcare – Technical methodology and guidance. Health care Without Harm (2022).
  6. Billions of people still breathe unhealthy air: new WHO data. World Health Organization (2022).
  7. Global Health Impacts of Air Pollution – Air pollution contributed to 6.67 million deaths in 2019. The Health Effects Institute (2020).
  8. Global Burden of Disease (GBD) Compare. Institute for Health Metrics and Evaluation – University of Washington (2020).
  9. Sasha Khomenko, Marta Cirach, Evelise Pereira-Barboza, Natalie Mueller, Jose Barrera-Gómez, David Rojas-Rueda et al.: Premature mortality due to air pollution in European cities: a health impact assessment. Lancet Health Planet (2021) Published Online – January 19, 2021.
  10. Impact de pollution de l'air ambiant sur la mortalité en France métropolitaine. Réduction en lien avec le confinement du printemps 2020 et nouvelles données sur le poids total pour la période 2016-2019. Santé Publique France (2021).
  11. Selon les polluants atmosphériques, les effets immédiats sur les admissions aux urgences et sur la mortalité diffèrent. INSEE Analyses (2021).
  12. Rapport synthétique d'activités 2019 - 2020. Centre interdisciplinaire de durabilité (CID) – Université de Lausanne (2020).
  13. L’impact environnemental du numérique en santé. Ministère des Solidarités et de la santé (2021).
  14. Purohit A, Smith J, Hibble A.: Does telemedicine reduce the carbon footprint of healthcare? A systematic review. Future Healthc J. 2021 Mar;8(1):e85-e91. doi: 10.7861/fhj.2020-0080. PMID: 33791483; PMCID: PMC8004323.
  15. Statista. Anzahl von Videosprechstunden von Ärzten in Deutschland in ausgewählten Monaten der Jahre 2019 und 2020.
  16. 19 millions : nombre de téléconsultations remboursées par l’Assurance maladie en 2020
  17. Mutualité française (2021).
  18.  Premiers résultats du Bilan Carbone® de l’AP-HP sur l’ensemble de ses activités
  19. AP-HP (2022).