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Die Opioid-Krise: Zeit zum Wachwerden

Die Opioid-Krise in den USA ist längst in andere Länder hinübergeschwappt. Besonders ärmere Länder sind betroffen, aber auch in Europa steigt der Opioidkonsum. Das hat dramatische Folgen.

HIV und AIDS in Zeiten der Opioid-Krise

Menschen, die Drogen injizieren, sind mehr als alle anderen Bevölkerungsgruppen gefährdet, sich mit HIV zu infizieren. Sie haben gegenüber Nichtkonsumenten ein um 35% höheres Risiko einer HIV-Infektion. Ein Zeichen, dass Drogenkonsum entkriminalisiert und Harm Reduction und andere Programme für Drogenkonsumenten erweitert werden müssen, so Julie Bruneau auf der diesjährigen AIDS-Konferenz in Montreal.

Oxycontin, Heroin, Fentanyl: Opioid-Epidemie in den USA

Die Opioid-Krise in Nordamerika begann in den 1990ern und war eigentlich ein gut gemeinter Versuch zur Schmerztherapie und Palliativbehandlung, erwies sich dann aber auch als Trittbrett zum rapiden Anstieg von Opioidverschreibungen. Die Medikamente wurden von den Pharma-Firmen teilweise aggressiv und irreführend als nicht addiktiv gelabelt oder sogar mit Rabattcoupons beworben und verharmlost.

Immer mehr Menschen wurden mit Opioid-Analgetika in Kontakt gebracht. Während einer zweiten Welle der Opioid-Krise um 2010 kam es zu einer verstärkten Kontrolle von Opioid-Verschreibungen und zu einer Neurezeptur von Oxycontin, die es nicht mehr ermöglichte, die Tabletten zu zermahlen und zu injizieren. In der Folge traten vermehrt Todesfällen bei Menschen auf, die von Oxycontin zu Heroin wechselten. Hauptsächlich in Städten und innerhalb nicht-weißer Bevölkerungsgruppen. Aber auch bei weißen jungen Männern in den Vorstädten breitete sich die Epidemie vor einem Hintergrund wirtschaftlicher Not und mangelnder Möglichkeiten zur Harm Reduction weiter aus. Eine dramatische dritte Welle befindet sich derzeit auf dem Vormarsch, die von Todesfällen durch Fentanyl gekennzeichnet ist, einem Derivat, das 50 bis 400 mal stärker wirkt als Heroin.

In Scott County, Indiana, gab es zwischen 2014 und 2015 einen HIV-Ausbruch innerhalb eines großen Netzwerks von Personen, die verschreibungspflichtige Opioide spritzten. 95% waren außerdem bereits mit HCV infiziert, und Indiana hatte eine weit überdurchschnittliche nationale Todesrate im Zusammenhang mit Opioiden. Die Epidemie wurde letztlich durch ein stark überwachtes Programm unter Kontrolle gebracht, das den Austausch benutzter Nadeln gegen sterile Bestecke, HIV-Screening und HIV-Therapie kombinierte. Der Fall Scott County zeigt deutlich die Vulnerabilität von Personen, die Drogen konsumieren, wenn keine Ressourcen und Gesundheitsversorgung zur Verfügung stehen, die auf ihren Bedarf abgestimmt sind. Das Programm in Scott County lief im Frühjahr 2022 aus und wurde trotz des großen Erfolgs nicht weiter gefördert.

Opioidkonsum während der COVID-19-Pandemie

Auch während der Corona-Pandemie hat sich der Einfluss sozialer und struktureller Faktoren auf die Opioid-Krise deutlich gezeigt. Besonders in größeren Gebieten mit höherer Einkommensungleichheit und innerhalb der nicht-weißen Bevölkerungsgruppen.

In Kanada stiegen die Verschreibungen von Opioiden auf ganz ähnliche Weise an wie in den Vereinigten Staaten. In den letzten sechs Jahren starben hier mehr als 30.000 Menschen an einer Überdosis Opioide. In 2019 hatten die Todesfälle im Zusammenhang mit Opioiden begonnen abzunehmen, nur um 2020 während der COVID-19-Pandemie abrupt bis zur bisher höchsten Zahl dokumentierter Fälle anzusteigen. Dabei ist erwähnenswert, dass multipler Substanzgebrauch ebenfalls eine ausschlaggebende Rolle spielt. Mehr als 50% der Menschen, die im Zusammenhang mit Opioiden starben, hatten auch Stimulanzien benutzt. Menschen, die Drogen konsumieren, sind häufig von der Regelversorgung ausgeschlossen und nicht in der Lage, kulturell angepasste oder nicht stigmatisierte Versorgungsangebote in Anspruch zu nehmen.

Dies gilt auch innerhalb des allgemeinen kanadischen Versorgungssystems, das außerhalb großer Städte praktisch nicht existiert. Gefangenen wird in den meisten Haftanstalten evidenzbasierte Versorgung vorenthalten, wenn Drogenabhängigkeit im Spiel ist. Das Corona-Virus hat diese strukturellen Barrieren noch verstärkt. Psychische Erkrankungen, Obdachlosigkeit und Isolation haben den Schaden weiter vergrößert. Und was in puncto HIV und HCV innerhalb dieser Bevölkerungsgruppen passiert, ist kaum bekannt, da ein Monitoring nicht möglich ist.

HIV, HCV und Überdosis im internationalen Kontext

Im internationalen Kontext haben sich verschiedene Interventionen als effektiv erwiesen, um Todesfälle und drogenbedingte Erkrankungen zu reduzieren. Eine wirksame Methode gegen HIV, HCV und Überdosis ist die Ersatztherapie. Der bisher erlangte Wissensstand bleibt jedoch hinter den zu lösenden Problemen zurück und die Förderungen für die Behandlung drogenbedingter Erkrankungen und Drogentherapie sind viel zu niedrig. Dabei liegt Kanada gemäß den WHO-Zielen zu Ersatztherapie und Spritzentausch relativ gut. Im großen und ganzen hat die kanadische Regierung auf nationaler Ebene in den meisten Zuständigkeitsbereichen auf die Opioid-Krise reagiert, und zwar sowohl mit Gesetzesanpassungen zum Abbau von Barrieren als auch einer Reihe von Implementierungen und der Aufstockung von Maßnahmen zur Entkriminalisierung von Drogenbesitz, Harm Reduction und Entstigmatisierung. Hilfsangebote müssen jedoch weiter ausgebaut und optimiert und der Zugang zu Grundversorgung vereinfacht werden. 

Die beiden Medikamente zur Ersatztherapie, die international und gemäß der WHO-Richtlinien anerkannt sind, sind Methadon und Buprenorphin. Methadon wurde in den 1940er Jahren entwickelt, Buprenorphin in den 1960ern. Die Abgabe ist jedoch stark reglementiert, nicht bedarfsgerecht und unterliegt strikten Kontrollen. Die Dosierung ist häufig zu niedrig, oft ist die Behandlung wirkungslos. Es ist bezeichnend, dass bei einer derart schwerwiegenden Erkrankung wie Drogenabhängigkeit über einen so langen Zeitraum die Pharmakotherapie stagniert. 

Was kann man aus den Geschehnissen in Nordamerika lernen?

Es gibt bereits gute Strategien, um HIV-Infektionen und HCV-Infektionen zu verhindern, wie z.B. Druckräume oder kostenlos erhältliche sterile Spritzen. Ersatztherapien können Todesfälle durch Überdosis verhindern.

Dieser Artikel basiert auf dem Vortrag “The opioid epidemic” von Julie Bruneau auf der diesjährigen AIDS-Konferenz. esanum hat die 24. Internationale AIDS-Konferenz in Montreal, Kanada, vom 29.07. - 02.08.22  begleitet. Hier geht es zur Konferenz-Berichterstattung.