Mit KI Herzinfarkt und Schlaganfall auf der Netzhaut erkennen? Logo of esanum https://www.esanum.de

KI-Netzhautscans zur Voraussage von Herzinfarkt und Schlaganfall

Prof. Vaghefi spricht über die Möglichkeiten der Künstlichen Intelligenz bei Retina-Scans, und darüber, wie die Netzhaut Hinweise auf Gesundheits- und Organprobleme geben kann.

Vorhersage von Herzinfarkten und Schlaganfällen über die Netzhaut, Pixel für Pixel

"Die Netzhaut ist die einzige Stelle, an der wir das Herz-Kreislauf-System buchstäblich fotografieren können."  -  a.o. Prof. Ehsan Vaghefi

Kurzbiografie von a.o. Prof. Ehsan Vaghefi

In seiner akademischen sowie unternehmerischen Karriere fokussiert sich a.o. Prof. Vaghefis darauf, Erblindungen mittels neuartiger und leicht zugänglicher Technologien zu verhindern. Der Grund dafür ist, dass sein Vater als Kind sein Augenlicht infolge einer vermeidbaren, aber nicht diagnostizierten Krankheit verlor. Deswegen ist a.o. Prof. Vaghefi sein ganzes Leben lang ein Wegweiser gewesen: Während andere Kinder in seinem Alter Hilfe von ihren Eltern beim Überqueren der Straße bekamen, half er seinem blinden Vater über die Straße. Gegenwärtig ist Ehsan Vaghefi außerordentlicher Professor für medizinische Bildgebung und künstliche Intelligenz in Optometrie und Augenheilkunde an der Universität von Auckland.

Als Akademiker hat er nicht nur mehr als 45 begutachtete Zeitschriftenartikel und drei Patente veröffentlicht, sondern auch mehr als 10 Millionen NZ$ an Forschungsgeldern erhalten. Im Jahr 2018 gründeten a.o. Prof. Vaghefi und Dr. David Squirrell gemeinsam Toku Eyes, ein soziales Unternehmen, das sich auf Vaghefis Ziel konzentriert, Blindheit in großem Umfang zu verhindern. Heute wird die KI-Plattform von Toku Eyes in vielen Kliniken in den USA, Indien, Australien und Neuseeland eingesetzt, um Menschen mit Erblindungsrisiko zu identifizieren, von Los Angeles bis zum ländlichen Indien.

Interview mit a.o. Prof. Vaghefi

Annabelle Eckert: Was können Sie uns über den KI-Netzhautscan erzählen?

KI ist im Wesentlichen eine Technologie, die Muster erkennt, allerdings ist sie komplexer als andere, bisher bekannte Technologien. Unsere Netzhaut enthält eine Menge Informationen über uns, unsere Augen, unser Herz-Kreislauf-System, unsere Nieren. All das ist nur eine Bildaufnahme entfernt. Das Tolle an der KI ist, dass sie jedes einzelne Pixel eines Bildes analysieren und nach einem Muster suchen kann. Wenn man Millionen dieser Netzhautbilder sowie unsere Anmerkungen zum Bild und den entsprechenden Patienten hat, dann kann man all diese Ähnlichkeiten und Muster betrachten und versuchen, einen prädiktiven Algorithmus zu entwickeln, der hoffentlich dabei helfen kann, ähnliche Muster in anderen Fundusaufnahmen zu erkennen.

Das ist eines dieser Dinge, die konzeptionell einfach, aber schwierig umzusetzen sind. Menschen verwechseln häufig simpel und leicht. Dinge, die simpel sind, sind nicht leicht. Dinge können einfach, aber schwierig sein, und die künstliche Intelligenz ist eines dieser Dinge, denn sie ist simpel in der Theorie und schwierig in der Umsetzung. Dazu später mehr. Aber wir haben das große Glück, dass wir in einer Zeit leben, in der wir die Fähigkeit haben, all diese Muster und Daten aus der Netzhaut zu gewinnen.

Annabelle Eckert: Warum ist die Netzhaut prädestiniert, um Herzinfarkte und Schlaganfälle vorauszusagen? Für Ärztinnen und Ärzte ist es sicherlich interessant, warum sich die Netzhaut so gut für diese Art von Scans eignet.

Die Netzhaut ist die einzige Stelle, an der wir das Herz-Kreislauf-System buchstäblich fotografieren können. Alles, was das Herz-Kreislauf-System beeinträchtigt, wirkt sich auch auf die Mikrogefäße im Auge aus. Die künstliche Intelligenz ist gut darin, diese Muster zu erkennen und versteht Form, Farbe und algorithmische Veränderungen im kardiovaskulären System, die durch alles Mögliche verursacht werden. Diese Veränderungen stellen die Risiken für kardiovaskuläre Erkrankungen und die Leistung des kardiovaskulären Systems eines Menschen dar. Das Gute an der Netzhaut ist, dass sie einem Protokoll unseres Lebens entspricht, denn was auch immer Sie in Ihrem Leben getan haben, ist irgendwo auf der Netzhaut gespeichert. Wenn Sie sich schlecht ernährt haben oder keinen Sport getrieben haben, dann führt das zu einer dauerhaften Veränderung auf der Retina.

Tatsächlich haben wir gerade eine Studie veröffentlicht, die zeigt, dass Rauchen die Netzhaut verändert. Denn Hypoxie verändert im Wesentlichen die Netzhaut. Der Retinascan ist also sehr wirkungsvoll, da er alle Schäden, Verhaltensweisen und genetische Informationen akkumuliert und in einer Bildaufnahme zusammenfasst. Ich glaube, dass man sehr bald sehen wird, dass eine Netzhaut-KI bei der Vorhersage von Risiken hinsichtlich kardiovaskulärer Erkrankungen genauer sein kann als Bluttests. Denn Bluttests können von Tag zu Tag, von Uhrzeit zu Uhrzeit und von Jahreszeit zu Jahreszeit schwanken. Das wissen wir, und deshalb wiederholen wir sie immer wieder, während sich das Netzhautbild weder verändert noch lügt.

Annabelle Eckert: Wie viele Trainingsläufe benötigte die KI, bis sie Herzinfarkt und Schlaganfall zuverlässig vorhersagen konnte?

Das ist der schwierige Teil. Leider sehe ich viele wissenschaftliche Untersuchungen, die veröffentlicht werden, die hinsichtlich der Daten und der Anzahl von KI-Versuchen sowie der Art und Weise der KI-Gestaltung sehr begrenzt sind. Wir können sagen, dass die KI im Stillen versagt, da sie nicht abstürzt, sondern immer eine Antwort liefert. Aber diese Antwort kann im Zweifel völlig irrelevant sein. Sie ist nicht wie ein Computercode, der abstürzt und dann einen blauen Bildschirm zeigt. Die [Entwicklung der Zuverlässigkeit] ist also noch nicht abgeschlossen. Außerdem ist KI nie vollendet. Einige Untersuchungen implizieren, dass es offenbar eine Obergrenze dafür gibt, wie gut eine KI werden kann, wenn man sie ausschließlich mit Daten füttert. Allerdings ist das nicht wahr.

Die Leistung einer KI kann anhand ihrer Genauigkeit beurteilt werden, und die Genauigkeit lässt sich nicht allzu sehr verbessern, indem man die KI einfach immer mit neuen Daten füttert. Dadurch wird die Verallgemeinerbarkeit einer KI nicht verbessert, wobei das ist die wichtigste Leistung, die unter bisherigen Technologien vermisst wird, ist. Ein Mangel an Verallgemeinerbarkeit bedeutet, dass die KI mit diesem speziellen Datensatz für diese Menschen funktioniert, aber wenn ich sie in einer anderen Klinik mit einer anderen Gruppe von Menschen einsetze, wird sie versagen. Oder wenn ich sie in einer anderen Kameraeinstellung bzw. bei einer anderen ethnischen Gruppe einsetze, wird sie versagen. Die KI kann also in allen Bereichen immer genauer werden. Bei unserer Arbeit haben wir daher nie aufgehört, unsere KI zu trainieren. Wir trainieren sie nicht, weil die prozentuale Genauigkeit besser wird, sondern weil sie umfassender wird und in vielen verschiedenen Umgebungen, wie z. B. mit verschiedenen Kameras, bei verschiedenen Ethnien und innerhalb verschiedener Altersgruppen, gute Leistungen erbringen kann.

Annabelle Eckert: Welche Möglichkeiten bietet der KI-Retina-Scan?

Wir arbeiten gerade an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, aber vor kurzem haben wir mit Nierenerkrankungen begonnen. Wenn jemand an einer Dysfunktion der Nieren leidet,dann zeigt sich das auf seiner Netzhaut. Wir wissen, dass die Netzhaut extrem empfindlich auf Osmose-Ungleichgewichte reagiert. Und wissen Sie was? Die Niere ist der Hauptfaktor, wenn es um das Osmosegleichgewicht des Körpers geht. Das Ausmaß der Erkenntnisse, das [über die Netzhaut] gewonnen werden kann, ist grenzenlos. Ich habe Arbeiten gesehen, die sich mit neurologischen Krankheiten wie Demenz, Parkinson und Alzheimer befassen. Das machen wir zwar noch nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass auch das funktionieren könnte.

Annabelle Eckert: Arbeiten Sie derzeit an weiteren Projekten für andere Krankheiten, bei denen der Retina-Scan zum Einsatz kommt? Und worauf können wir uns in den nächsten Jahren freuen?

Der Bereich der Nierenkrankheiten ist derjenige, in dem wir erst neuerdings forschen, aber in den nächsten Jahren werden wir daran arbeiten, unsere KI in Produkte zu implementieren. Das ist ein Forschungsgebiet, das oft übersehen wird. In der akademischen Forschung erlebe ich, dass man ein Projekt durchführt und etwas darüber publiziert, aber daraus kein konkretes Produkt entsteht. Das liegt daran, dass es extrem schwierig ist, ein wissenschaftliches Projekt in ein Produkt umzuwandeln, weil die Verallgemeinerbarkeit, die Zuverlässigkeit und die Auswirkungen auf kommerzielle Anwendungen eine Rolle spielen. In den nächsten Jahren werden wir unsere Forschung also eher zu einem Produkt machen, bei dem wir sicherstellen, dass es überall, für jeden, in jedem Kontext funktioniert.

Annabelle Eckert: Welche Erfahrungen haben Sie in den letzten Jahren mit ihrer KI gemacht?

Es gibt mehrere Aspekte bei dieser Frage. Da ist zunächst einmal der Aspekt der Zulassungen. Im Moment sitze ich in Orlando, weil wir hier gerade ein Projekt gestartet haben. Bei diesem Projekt haben sich die Kliniker innerhalb eines einzigen Tages an die KI gewöhnt. Am Ende des Tages ließen sie die KI parallel zu ihrer Arbeit laufen. Sie nutzten die KI, um sie als Zweitmeinung zu konsultieren, daraus entstand dann ein ganz natürlicher Prozess. Ich denke, dass das der Schlüssel ist.

Die Erfahrung mit der Retina-Scan-KI ist eine Erfahrung, die für einen Kliniker ganz natürlich ist. Die KI ist nicht aufdringlich, sie versucht nicht, die Arbeit der Ärztinnen und Ärzte zu ersetzen oder sie ihnen abzunehmen. Sie fungiert vielmehr wie ein zweiter Berater. Wenn man eine Frage hat, googelt man sie als Erstes und holt sich eine zweite Meinung ein. Wir haben unsere KI so konzipiert, dass sie genau das ist: ein Assistent. Wenn man sich sicher ist, wonach man sucht, ist das großartig, aber wenn man nur eine zweite Meinung einholen will, ist sie da, man kann sie sich ansehen und in Betracht ziehen. Das ist die klinische Seite, die sehr leicht zu verstehen und zu handhaben ist und innerhalb eines einzigen Tages in die Praxis integriert wird.

Aus Sicht der Gewöhnung gilt: Je mehr Kliniken wir erreichen, desto mehr werden wir weiterempfohlen. In jeder Klinik wird das Produkt gesehen, es gefällt, und wir werden an weitere Kliniken verwiesen, und so geht es immer weiter. Ein nächster Aspekt ist der soziale. Ich habe immer daran geglaubt, dass die Technologie der unterversorgten Bevölkerung den Zugang zur Gesundheit ermöglichen sollte, den sie sonst nicht hätte. In westlichen Gesellschaften kann die KI Effizienzsteigerungen bewirken, aber in Ländern mit mittlerem und niedrigem Einkommen kann die KI einen Dienst anbieten, den es vorher nicht gab. Derzeit wird unsere KI in zwanzig Augenkliniken in Indien als Versorger eingesetzt. Sie assistiert also nicht, sondern übernimmt tatsächlich die Rolle des Arztes. In vielen Ländern gibt es nicht genügend Ärzte, die sich die Bilder einfach ansehen können, sodass die einzige Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, in der Technologie liegt.

Ich bin sehr stolz auf die Arbeit, die das Team geleistet hat, denn jetzt können wir jeden Tag Tausenden von Menschen in Indien (und wir sprechen über das ländliche Indien, eine Bevölkerung, die sehr unterversorgt ist), die von weniger als einem US-Dollar pro Tag leben, helfen. Wir sind nicht gewinnorientiert, es ist uns egal, falls sie nicht zahlen können, wir wollen nur sicherstellen, dass wir der Gemeinschaft etwas zurückgeben.

Quellen: