Von der Kindheit bis ins hohe Alter haben immer mehr Menschen gesunde Zähne. Wie aber steht es um Pflegebedürftige? Unterwegs mit einer engagierten Zahnärztin.
Nicole Primas beugt sich hinunter zu ihrem Patienten im Rollstuhl. Der gibt ihr sein Gebiss. Sie begutachtet es und ist zufrieden. "In diesem Fall ist es sehr sauber." An den restlichen Zähnen des 85-Jährigen entfernt sie Zahnstein. Wenig später rollt er wieder über den Flur des Seniorenheims. Dort hat sich an diesem Vormittag schon eine Traube gebildet. Primas ist Zahnärztin mit eigener Praxis und besucht einmal pro Woche die Bewohnerinnen und Bewohner dieses Magdeburger Heims. Ihre Erfahrung reicht 18 Jahre zurück.
Zahnstein entfernen, Füllungen erneuern und auch mal einen Zahn ziehen gehören zum Programm. Der Vorteil: Für die oft nur wenige Minuten dauernden Behandlungen müssen die alten Menschen nicht aus dem Haus. Das spart Zeit und Kosten. Und: Es sorgt dafür, dass sich jemand regelmäßig die Zähne ansieht. Selbstverständlich sei das nicht, sagt der Präsident der Zahnärztekammer Sachsen-Anhalt, Carsten Hünecke. Er verweist auf die jüngste vorliegende Deutsche Mundgesundheitsstudie aus dem Jahr 2016, nach der Pflegebedürftige deutlich weniger Kontakt zu Zahnärztin oder Zahnarzt haben als nicht Pflegebedürftige.
Die Studie habe gezeigt, dass immer mehr Menschen auch im hohen Alter eigene Zähne haben. Während bei den 75- bis 100-Jährigen lediglich ein Drittel keine eigenen Zähne mehr habe, sei das heute bei den Menschen mit Pflegebedarf in dieser Altersgruppe bei jedem Zweiten der Fall. Zu den Ergebnissen der Studie gehörte auch, dass pflegebedürftige ältere Menschen häufiger Karies und weniger eigene Zähne haben.
Die Pflegebedürftigen können die Pflege von Zähnen, Implantaten und Zahnersatz oft nicht mehr selbst bewältigen. Das merkt auch die Magdeburger Zahnärztin Nicole Primas. Deshalb kümmert sie sich nicht nur um das Gebiss der SeniorInnen, sondern berät die Pflegekräfte. Die Prävention habe sich schon bemerkbar gemacht. Es gebe deutlich weniger Personen, die unter Schmerzen litten, sagt Primas.
Der Vorstandsvorsitzende der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt, Jochen Schmidt, berichtet von landesweit 269 Verträgen zwischen Zahnarztpraxen und Heimen. Das entspreche einer theoretischen Abdeckung von 40 Prozent, zehn Prozentpunkte mehr als im Bundesschnitt. Die Zahnarztausrüstung müsse teils jedes Mal in die Heime getragen werden, behandelt werde dann in der Cafeteria oder an anderen Orten.
Carsten Hünecke von der Zahnärztekammer sagt: "Es wäre ideal, wir hätten dort einen Raum. Es gibt hervorragende Behandlungskonzepte, so dass man selbst im Rollstuhl behandeln könnte, auch mit mobilen Einheiten."
Nicole Primas hat in dem knapp 150 BewohnerInnen fassenden Heim einen solchen Raum. Ein alter Zahnarztstuhl steht darin und eben diese mobile Einheit: Saugen, bohren, Zahnstein entfernen kann Primas mit dem koffergroßen Gerät. Drei Schwestern aus ihrer Praxis hat sie dabei. Eine sagt, am Anfang sei es gewöhnungsbedürftig gewesen hier im Heim, inzwischen gehöre es einfach dazu. Selbst wie die Bremsen der Rollstühle zu lockern sind, wissen die Helferinnen.
Nicht nur denjenigen, die in den Behandlungsraum kommen können, hilft Nicole Primas. Mit ihrer mobilen Ausrüstung geht sie auch zu denen, die ihr Pflegebett nicht mehr verlassen können. Dann gebe es aber auch andere: Die Bettlägerigen, die mehrfach erkrankt sind und viele Medikamente nehmen müssten. "Die kriegen wir nicht versorgt. Die vegetieren vor sich hin." Dabei hat die Zahnärztin einen Patienten vor Augen, der auf Ansprache nicht mehr reagiert, der mit den Zähnen knirscht. In seinen Mund kann sie nicht richtig gucken, sie weiß nur: "Es sind Zähne abgebrochen" und "Er würde mir die Finger abbeißen." In jedem Heim gebe es drei bis vier solcher Personen.
Für diese Menschen fordert die Zahnärztekammer dringend Veränderungen: Nicole Primas, die im Vorstand mitarbeitet, hält Stationen an Kliniken für notwendig, in denen es Räume für die Zahnbehandlung solcher Fälle gibt. In einer Minute müsse eine stationäre Aufnahme möglich sein, falls es Komplikationen gibt. Dazu müsse es den politischen Willen geben und Klarheit über die Finanzierung: Wer bezahlt den Zahnarztstuhl, wer die Wartung, wer den Raum? Bislang sei so etwas nicht geregelt, die ambulante und die stationäre Versorgung sind strikt getrennt.
Der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) schaue bei seinen Qualitätsprüfungen in vollstationären Pflegeeinrichtungen auch auf Mund und Zähne der Bewohnerinnen und Bewohner, teilt eine Sprecherin mit. Jeweils neun Pflegebedürftige pro Einrichtung würden genau angeschaut, etwa auf trockene Mundschleimhaut, Zahnbelag und Prothesen. Bei Defiziten würden die Pflegekräfte beraten, die Krankenkassen informiert. Im Zusammenhang mit Pflegegutachten, bei denen die Pflegebedürftigkeit ermittelt werde, hätten die Pflegefachkräfte bislang keine Hinweise auf Versorgungslücken in den Einrichtungen. "Auch Defizite in der zahngesundheitlichen Versorgung sind nicht auffällig."
Eine 88 Jahre alte, weißhaarige Heimbewohnerin kommt mit dem Rollator in Primas' Heim-Sprechstunde. Aus der Tasche ihrer Strickjacke holt sie etwas und gibt es der Ärztin in die Hand: "Also, bei mir ist es passiert ..." Sie habe sich beim Essen gefragt, was sie da Hartes kaue. Nach einem kurzen Blick sagt Primas ihrer Assistentin knapp: "Füllung." Und zur 88-Jährigen: "Wir wollten heute ein bisschen saubermachen und dann mache ich Ihnen eine neue Füllung rein."
Die Zahnärztin entdeckt auch noch zu wenig geputzte Stellen an den Frontzähnen - das will sie später mit den Pflegekräften besprechen. Wenig später, nach der Behandlung, sagt die Seniorin: "Ich bin richtig glücklich." Sie achte noch immer darauf, dass jedes Jahr das Bonusheft abgestempelt wird. Heute habe sie es einmal vergessen.
Dieses Lächeln und die Dankbarkeit, sagt Nicole Primas, seien der Grund, warum sie das seit 18 Jahren mache. Schon als Assistentin sei sie in Heime gegangen. "Für mich gehört das einfach zu unserem Job dazu", sagt die 48-jährige Zahnmedizinerin. Sie fasst sich Richtung Herz. "Ich will ja auch alt werden."