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Wochenrückblick Gesundheitspolitik: Finanzloch bei Krankenkassen, Umsatzplus für Biotech-Branche

Während hohe Defizite bei Krankenversicherung und Pflegeversicherung erwartet werden, verzeichnet die Biotech-Branche ein dickes Umsatzplus, außerdem blickt der Pandemie-Expertenrat bereits mit Sorge in den Herbst - das sind die gesundheitspolitischen Entwicklungen in der KW 23.

GKV-Spitzenverband fordert den Staat zur Stabilisierung der Kassenfinanzen

Vor dem Hintergrund eines prognostizierten Defizits der gesetzlichen Krankenkassen von 17 Milliarden Euro im Jahr 2023 – andere Schätzungen gehen von bis zu 24 Milliarden Euro aus – fordert der GKV-Spitzenverband dringend Klarheit vom Gesetzgeber durch ein Finanzstabilisierungsgesetz. Ein nicht mit anderen Ressorts abgestimmter Referentenentwurf war im März nach wenigen Tagen wieder vom Bundesgesundheitsministerium zurückgezogen worden.  

Zur Abdeckung des von der GKV erwarteten Defizits wäre es erforderlich, den Beitragssatz um mindestens 1,1 Prozentpunkte anzuheben, unter anderem auch deshalb, weil Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach bereits bei seinem Amtsantritt Leistungskürzungen kategorisch ausgeschlossen hat. Der GKV-Spitzenverband, so deren Vorsitzende Dr. Doris Pfeiffer bei einem Presseseminar in Sommerfeld bei Berlin, sieht daher den Staat gefordert und schlägt drei Maßnahmen vor:

  • Die Senkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel von derzeit 19 auf 7 Prozent; das würde die Krankenkassen um sechs Milliarden Euro entlasten. Dieser Punkt war bereits in einem ersten Gesetzentwurf enthalten, jedoch nicht mit dem Finanzminister abgestimmt.
  • Die Anhebung der Pauschalen für Empfänger von Arbeitslosengeld auf ein kostendeckendes Niveau – eine alte Forderung, die den Krankenkassen zusätzliche Mittel von rund zehn Milliarden Euro bringen würde.
  • Ferner müssten einmalige Bundeszuschüsse künftig regelhaft als solide Finanzierung staatlicher Auftragsleistungen gestaltet werden.

Seit Wochen wird mit großer Spannung ein Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums erwartet, nicht zuletzt auch von der pharmazeutischen Industrie, die befürchtet, als einzige Gruppe unter den Leistungserbringern massiv von Einsparungen betroffen zu sein, beispielsweise durch eine Mixtur diverser Abschläge auf Preise und Erstattungsbeträge. Im ersten Entwurf war aufgrund dieser Maßnahmen eine Entlastung der Kassen um rund drei Milliarden Euro vorgesehen – viel zu wenig, um das Finanzierungsloch zu decken. Angesichts ihrer  Zusagen – keine Beitragserhöhungen, keine Leistungseinschnitte, Einhaltung der Grenzen für die Neuverschuldung ab 2023 – hat sich die Bundesregierung in ein nicht auflösbares Dilemma manövriert. Die Ziele sind in dieser Kombination nicht erreichbar.

Auch Pflegeversicherung gerät ins Defizit

Neben der Krankenversicherung droht auch der gesetzlichen Pflegeversicherung nach einem aktuell für 2022 erwarteten Finanzloch von 2,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr ein noch weiter wachsendes Defizit. Ohne eine Erhöhung des Bundeszuschusses müssten die Beitragssätze um 0,35 Prozent auf 3,4/3,75 Prozent angehoben werden, so das für die Pflegeversicherung zuständige Vorstandsmitglied des GKV-Spitzenverbandes, Gernot Kiefer. Der Verband fordert eine Erhöhung des Bundeszuschusses von 4 Milliarden Euro zur Finanzierung bislang nicht gedeckter Corona-Maßnahmen sowie weitere 3,3 Milliarden Euro zur Abdeckung von Sozialversicherungsbeiträgen, die die Pflegekassen für pflegende Angehörige übernehmen. Der GKV-Spitzenverband kritisiert, dass die Pflegekassen derzeit nur durch Kredite liquide gehalten werden, die über kurz oder lang wieder zurückgezahlt werden müssen. Dabei drohen den Pflegekassen weitere Kostensteigerungen: die Tarifbindung von Pflegeeinrichtungen ab September und neue bundeseinheitliche Personalschlüssel.      

Pandemie-Expertenrat empfiehlt robuste Vorbereitungen für den Herbst

Der Expertenrat der Bundesregierung empfiehlt mit Blick auf den Herbst effektive Vorkehrungen gegen steigende Infektionszahlen und eine nicht auszuschließende erneute Überlastung des Gesundheitswesens und kritischer Infrastrukturen.  Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung haben die umfassenden Empfehlungen, die innerhalb der nächsten sechs Monate bundesweit in verschiedenen Politikfeldern umgesetzt werden sollen, ausdrücklich begrüßt. Der Expertenrat hat drei unterschiedliche Szenarien durchkalkuliert, von denen keines als ausgeschlossen gelten kann:

  1. Ein günstiges Szenario, geprägt durch neue Virusvarianten zwar mit höherer Infektiosität, aber geringerer Krankheitsschwere.
  2. Ein Basis Basisszenario mit einer ähnlichen Krankheitslast wie bei den jüngst aufgetretenen Omikron-Varianten BA.4, BA.5 und BA.2.12.1. Mögliche Folgen: Mehrere Pandemiewellen über etliche Monate mit stärkeren Arbeitsausfällen, möglicherweise notwendigen regionalen Kontaktbeschränkungen.
  3. Ein ungünstiges Szenario mit einer neuen Virusvariante mit einer Kombination aus verstärkter Immunflucht, höherer Übertragbarkeit und erhöhter Krankheitsschwere. Die Folgen: starke Belastung des Gesundheitswesens, Reaktivierung des Kleeblatt-Verlegungskonzepts.

Die Experten empfehlen eine daran angepasste Strategie unter anderem mit folgenden Elementen:

  • Einrichtung einer zentralen Koordinationsstelle der Pandemiemaßnahmen zwischen Bund und Ländern, insbesondere um zeitnahe Reaktionen zu gewährleisten.
  • Frühzeitig Interventionen: Systematische Prüfung und Anpassung spezifischer Rechtsverordnungen; Anpassung der Intensität von Maßnahmen an das Infektionsgeschehen uf Basis frühzeitig und einheitlich festgelegter Indikatoren, kombiniert mit frühzeitiger Kommunikation; Festlegung des Umgangs mit Virusvarianten.
  • Patientenversorgung: Zugang zu antiviraler Medikation in der ambulanten Medizin verbessern, Refinanzierung für ambulante Gabe im Rettungsdienst und in Krankenhäusern schaffen. 
  • Gute Kommunikation: bundesweit möglichst einheitliche Kommunikation von Regeln und Empfehlungen, koordiniert von einer zentralen Kommunikationsstelle; einfache, aber verbindliche Regeln; schnelle Verbreitung von Regeln über alle medialen Kanäle; Einrichtung einer Bundesstelle zur Entwicklung von Strategien gegen Falschinformationen.
  • Prävention, insbesondere Impfen: aufsuchende Impfteams, Etablierung eines Publik Health-Nursing-Konzepts; Aufklärung zu Influenza- und Pneumokokkenimpfung; Impfen an Schulen unter Einbeziehung von Eltern und Beziehungspersonen; Erhalt einer Rumpfstruktur der Impfzentren; Verstetigung der Impferfassung, Weiterübermittlung aller Impfdaten an Kassen und Aufbereitung für die Forschung (Beispiel Israel); Schulung von medizinischem Personal, insbesondere zur Widerlegung von Falschinformationen.
  • Kinder und Jugendliche: Abmilderung einer möglichen Überlastung von pädiatrischen Versorgungskapazitäten; Etablierung einer grundsätzlichen Strategie zur Planung von Unterrichts- Organisations- und Betreuungsformen an Schulen und Kitas unter Pandemiebedingungen; systematische Erhebung des Digitalisierungsgrades der Schulen; obligatorische CO2-Messung in Klassenräumen.

Superboom der Biotech-Branche in 2021

Die zur Marktreife entwickelte mRNA-Technologie und die seit Dezember 2020 zugelassenen, in Deutschland entwickelten und hergestellten Impfstoffe haben zu einem Superboom der Biotechnologie-Branche geführt. So stieg der Umsatz sprunghaft um 279 Prozent auf 26,32  Milliarden Euro, die Forschungs-und Entwicklungsinvestitionen wuchsen um  54 Prozent auf 3,84 Milliarden Euro. Dies geht aus einer Umfrage des Branchenverbandes BIO Deutschland unter 750 privaten deutschen Unternehmen hervor. Die Zahl der Arbeitsplätze stieg um 16 Prozent. Wesentlich zu dem außerordentlichen Wachstum beigetragen haben die beiden Unternehmen BioNTech und CureVac. Oliver Schacht, Vorstandsvorsitzender von BIO Deutschland, sieht die Chance, das Deutschland zu einem international führenden Biotechnologie-Standort werden kann. Das erfordere auch geeignete politische Rahmenbedingungen, um die technologische Souveränität zu sichern.