Diabetologie: Inklusion stärken und Versorgung sichern Logo of esanum https://www.esanum.de

Wir waren in der Diabetologie immer kämpferisch aufgestellt

Dr. Dorothea Reichert beleuchtet die Herausforderungen und Lösungen der Digitalisierung und Inklusion bei Diabetes. Fokus auf Versorgungssicherheit und Barrierefreiheit.

Interview mit Dr. Dorothea Reichert

esanum: Frau Dr. Reichert, was haben Sie sich als Tagungspräsidentin der DDG-Herbsttagung auf die Fahnen geschrieben? 

Dr. Reichert: Unser Motto ist "Der Mensch im Mittelpunkt". Es geht darum, alle Beteiligten in den Mittelpunkt zu rücken - die Patienten und die Behandlungsteams, um jeden mit seinen Bedürfnissen mitzunehmen. Der gegenseitige Austausch bei den vielen Sessions ist unheimlich wichtig. Nur eine gelungene Kooperation zwischen Beraterinnen und Ärztinnen und anderen Beteiligten bis hin zu Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen wird letztendlich den Patienten die Unterstützung geben, die sie in einer immer schwieriger werdenden Zeit brauchen.

esanum: Was sind die essentiellen Neuheiten auf der diesjährigen  Herbsttagung?

Dr. Reichert: Ganz wichtig ist die Digitalisierung und wie wir sie sinnvoll für den Menschen einsetzen. Mein Herzensthema ist, dass Technik so einfach wird, dass jeder über sie verfügen kann. Natürlich werden wir der Wissenschaft Raum geben und zeigen, wohin der Weg geht. Und auch hier ist die Frage: Wie kann uns die Technik und die Digitalisierung helfen, die Dinge umzusetzen? Zudem bringen wir auch die Grundlagenforschung mit hinein, sowohl bei der Entwicklung des Typ-1-Diabetes als auch beim Typ-2-Diabetes. Darüber hinaus nehmen wir die Schulung in den Blick, um noch besser zu werden bei der Beratung dazu, was der Patient braucht, um tatsächlich sein Verhalten zu ändern. Es geht auch darum, dass die jungen Mediziner den richtigen Zugang zur Diabetologie finden. Deswegen sind Basismedizin-Themen wie "Der diabetologische Notfall" oder "Die klinische Entscheidung" ganz wichtige Inhalte. Bereichert wird das Ganze noch durch das wunderbare Thema Schwangerschaft. Also das Erstauftreten von Diabetes in der Schwangerschaft, aber auch die Begleitung von jungen Typ-1-Diabetikerinnen und jungen Typ-2-Diabetikerinnen zum Schwanger werden, über die Schwangerschaft hinaus bis zur Nachsorge und Nachbetreuung. Aber auch die Auswirkungen des Klimawandels werden eine Rolle spielen. Wir sind also sehr breit aufgestellt.

esanum: Sie selbst sprechen auf der Vorab-Pressekonferenz ein spezielles Thema an. Es lautet "Übergänge meistern: Von der Erwachsenenmedizin in die Geriatrie und Inklusion von Menschen mit Behinderung." Warum haben Sie das Thema ausgewählt?

Dr. Reichert: Es geht um das große Thema Inklusion von Behinderten und älteren Menschen - also um die Einschränkungen und Behinderungen, die Menschen im Alltag betreffen. Das umfasst, wie bereits angedeutet, die Barrierefreiheit der modernen Techniken. Es treibt mich um, dass wir immer noch keinen Glukosesensor mit Sprachausgabe haben. Die segensreiche Erfindung des Glukosesensors, der Menschen sagt, wo sie gerade mit ihrem Zucker stehen, wird stark sehbehinderten und blinden Menschen vorenthalten. Auch die Barrierefreiheit von Insulinpumpen ist mir ein extrem wichtiges Anliegen. Vieles läuft ja über Apps und Ähnliches. Und hier erleben gerade ältere Menschen, für die das Internet nicht im Fokus ihres Lebens steht, eine Exklusion. Und dann kommt noch das ganz große Thema: Übergang in die Pflege. Hier haben wir keine breite Ausbildung im Umgang mit Diabetes. Das bedeutet, dass die Sozialstation zum Spritzen kommt, es aber aufgrund vielfältiger Probleme nicht möglich ist, den richtigen Zeitpunkt mit dem Patienten zu vereinbaren, wann er frühstücken möchte. Das kann beim Typ-1-Diabetes zur Katastrophe führen. Einen Menschen, der seit 60 Jahren morgens um 8 Uhr frühstückt, den ändert die Sozialstation nicht mehr. Doch sie folgen häufig ihrem Zeitplan, ohne die Gewohnheiten des älteren Patienten zu berücksichtigen. 

Auch der Umgang mit Pumpen ist den Pflegediensten und oft den Krankenhäusern vollkommen unbekannt. Das bedeutet, dass Menschen, die in eine Notsituation kommen, diese essentielle Therapie verlieren, nur weil wir als Gesamtheit der in der Medizin Tätigen diese Technik nicht in der Breite beherrschen. Hier muss ganz viel in der Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften, aber auch Ärztinnen und Ärzten getan werden. Das ist eine Mammutaufgabe, denn wir haben ja ohnehin viel zu wenige Pflegekräfte. Wir müssen die Awareness dafür schaffen, dass wir damit ein Riesenproblem haben. Wir haben inzwischen viele Typ-1-Diabetiker, die älter werden, weil man es geschafft hat, ihnen eine stabile Stoffwechselsituation zu ermöglichen. Und das lässt man dann einfach liegen, weil ausreichend geschultes Personal fehlt und kehrt zu vorsintflutlichen Therapien zurück, die massive Einschränkungen für diese Menschen bedeuten. Das ist erschreckend.

esanum: Was schlagen Sie vor, um die Situation zu verbessern?

Dr. Reichert: Wir müssen erreichen, dass Pflegedienste dieses Problem überhaupt erst einmal in den Fokus nehmen, um nach einer Lösung zu suchen. Vielleicht kann man mithilfe der Digitalisierung flexiblere Einsatzpläne schaffen. Man muss versuchen, Verbündete zu finden. Und die Weiterbildung ist ganz entscheidend, damit die Pflegekräfte für das Problem sensibilisiert werden und nicht immer weiter in Zeitnot gebracht werden - sodass sie überhaupt eine Chance haben zu schauen: Kann der ältere Menschen jetzt essen, steht da überhaupt etwas zu essen bereit? Reinlaufen, Blutzucker messen, auf den Plan gucken, eine Ziffer einstellen und schnell den Pen reinhauen - das kann es nicht sein. Das ist nicht, was ich mir unter einem selbstbestimmten Altwerden vorstelle. Das Gleiche können wir auf Menschen mit Behinderung übertragen. In den Wohngemeinschaften gibt es oft nur Sozialarbeiter, von denen manche nicht spritzen wollen und auch nicht müssen. Dann wird es sehr schwierig, die Menschen zu versorgen. Wenn wir jetzt nicht anfangen, darüber nachzudenken, wird es nie besser werden. Für mich bedeutet es nichts anderes als Exklusion, wenn wir die Versorgung Älterer und Behinderter nicht besser gestalten.

esanum: Es gibt einige gesundheitspolitische Konflikte rund um die Sicherung der Diabetes-Versorgung - welche sehen Sie als vorrangig an?

Dr. Reichert: Es gibt vorsichtigen Optimismus, was zum Beispiel den Erhalt der diabetologischen Schwerpunktpraxen bezüglich des Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetzes anbelangt. Die Gespräche im Gesundheitsausschuss laufen. Und wir können noch keine Entwarnung geben. Gerade wenn man das “Gesunde-Herz-Gesetz” von Herrn Lauterbach anschaut, wo es auch um die Finanzierung der Disease Management-Programme (DMP) geht, muss man sehr wachsam sein. Denn wenn diese Säule infrage gestellt wird, dann haben wir keine Chance mehr für eine weitere spezialisierte Versorgung von Menschen mit Diabetes. Das ist das, was mich beschäftigt. Ich habe unter uns Diabetologen immer eine starke Gemeinschaft erlebt, die mich schließlich auch in die Berufspolitik getragen hat. 

Wir haben in den letzten zwanzig Jahren ein sich verbesserndes System mit allen nötigen Vernetzungen geschaffen. Darum haben wir lange gekämpft, auch mit der Kraft der Selbsthilfegruppen. Wir waren in der Diabetologie immer kämpferisch aufgestellt, um die Versorgung unserer Millionen Patienten zu verbessern. Ich finde es sehr gefährlich, wenn man eine ziemlich gut funktionierende Struktur wie die diabetologische Versorgung in Schwerpunktpraxen angreift, gerade da die Versorgung im Krankenhaus oft schon so schwierig geworden ist. Das Erreichte sollte man wirklich nicht ohne Not antasten.   

Kurzbiographie Dr. Dorothea Reichert

Dr. Dorothea Reichert ist Tagungspräsidentin der Diabetes-Herbsttagung, Fachärztin für Innere Medizin und Diabetologin in der Diabetesschwerpunktpraxis.