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Wie wichtig ist Gendern in der Medizin?

Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes, im Interview über die Wichtigkeit von gendergerechter Sprache, Gleichberechtigung und Motivation für junge Medizinerinnen.


esanum:
Frau Dr. Groß, wie möchten Sie korrekt angesprochen werden?

Das ist mir ziemlich egal. Es ist das Recht eines jeden und einer jeden, das individuell zu handhaben. Mich würde stören, wenn es bei Aufzählungen Frau Dr. heißt, während die Männer einfach nur mit Dr. angeredet werden. Wenn der Herr Dr. nicht als solcher bezeichnet wird, will ich auch nicht explizit als Frau angesprochen sein. Aber ehrlich gesagt, habe ich mir darüber noch nie so viele Gedanken gemacht, wie jetzt nach Ihrer Frage.

esanum: Wie wichtig ist gendergerechte Sprache in der Medizin?

Vor einiger Zeit habe ich noch gedacht, Arzt oder Ärztin, das ist doch unwichtig. Ich gehöre also nicht zu denjenigen, denen schon sehr früh gendersensible Sprache wichtig war. Aber ich habe inzwischen verstanden, dass Gendern eine wichtige Funktion hat. Das hat auch mit meiner Tätigkeit als ärztliche Psychotherapeutin zu tun. Hier nutze ich oft Bilder, um Verhalten zu ändern. Ein Beispiel für die Macht der Bilder: Denken Sie an einen Chefarzt. Was sehen Sie vor sich? Vermutlich einen älteren Mann im weißen Kittel. Jetzt denken Sie an einen Arzt, auch hier erscheint als erstes Bild der männliche Arzt, dann schaltet sich der Kopf ein - und sagt: Moment, es gibt ja auch 50 Prozent Ärztinnen. Und wenn ich sage: Oberärztin, dann sehen Sie vermutlich eine Frau im grünen OP-Kittel.

esanum: Und was bedeutet das ganz praktisch?

Das hat etwas mit Selbstbewusstsein zu tun. Frauen brauchen immer noch Zuspruch, wenn es um Karriereziele geht. Wenn wir mit dem Begriff Chefarzt spontan einen mittelalten Mann verbinden, können sich Frauen weniger vorstellen: Das kann ich auch schaffen, ich will auch Chefärztin werden!

esanum: Was ändert die gendergerechte Sprache daran?

Wenn wir öfter von Chefärztinnen sprechen, entsteht im  Bewusstsein der jungen Medizinerinnen auch die Option, das anzustreben. Wenn wir sprachlich auf vorhandene Beispiele hinweisen, kann das die Motivation stärken, über solch ein Ziel realistisch nachzudenken.

esanum: Medizin wird ohnehin weiblicher, brauchen wir nicht einfach nur abzuwarten, damit es gerechter zugeht?

Die Medizin ist schon lange weiblich. Wir haben über 80 Prozent Frauen in den Gesundheitsberufen. Und wir haben knapp 50 Prozent Ärztinnen – in einigen Fächern gibt es sogar einen Frauenüberhang. Wenn die Arbeit aber unattraktiver wird, könnten wir etwas erleben wie in der Lehrerschaft – und wir bekommen dann fast nur noch Frauen in der Medizin. Das hat mit der Attraktivität des Berufes zu tun und mit Geld. Gewisse Leitungspositionen sind bereits unattraktiver geworden, weil Betriebswirtschaftler das Sagen haben und nicht mehr der Chefarzt, die Chefärztin. Es weiß derzeit niemand genau, wohin das geht.

esanum: Welche Veränderungen erhoffen oder wünschen Sie sich?

Wenn Medizin weiblicher wird und als Beruf attraktiv bleiben soll, brauchen wir ein vernünftiges Netzwerk für Vereinbarkeit von Beruf und Familie. In erster Linie gehört dazu neben guter Kinderbetreuung eine angepasste Arbeitszeit. Niemand kann 40, 50 oder gar mehr Stunden pro Woche arbeiten und Haushalt und Kinder versorgen. Dazu gehört auch eine Veränderung der männlichen und weiblichen Rollen in der Gesellschaft. Auch die jungen Ärzte wollen nicht nur arbeiten, sie möchten auch für die Familie da sein. Wenn mehr Ärztinnen ganztags arbeiten könnten, erst dann hätten sie die gleichen Aufstiegschancen wie die männlichen Kollegen.

esanum: Mit Veränderungen der Sprache ist es also nicht getan?

Nein, sie ist eher ein Baustein für mehr Gleichberechtigung. Weil die Bilder im Kopf eine so große Macht haben. Und wenn eine junge Ärztin auf der Bühne steht und sagt: "Ich bin Arzt", dann tut mir das weh, weil sie Ärztin ist. Ich will, dass Ärztinnen nicht mehr so viele Hindernisse auf ihrem Weg vorfinden. Und das fängt im Kopf an und zeigt sich in der Sprache.

esanum: Und was finden Sie schriftlich korrekt?

Wir versuchen, so oft wie möglich beide Geschlechter zu nennen, Aber manche offiziellen Texte werden dann einfach zu lang, da müssen wir selbst einen Weg finden. Wir im Deutschen Ärztinnenbund verwenden dann den Doppelpunkt oder das Sternchen, im Kammerbereich wird oft angemerkt: Wenn nicht anders vermerkt, sind beide Geschlechter gemeint." Aber wir können zudem üben, immer mehr Begriffe wie "Studierende" zu verwenden.