Aktuelle Experimente konnten neue Erkenntnisse darüber erbringen, über welche Wechselwirkungen Lithium die manischen Höhen und quälenden Tiefen bei Menschen mit Bipolarer Störung modulieren kann. Dabei handelt es sich um eine psychische Erkrankung, an der laut National Institute of Mental Health etwa 2,6 Prozent der Amerikaner leiden. Bisher ist es nahezu unbekannt, wie das Alkalimetall wirkt.
Mit Hilfe von Kernspinresonanz (NMR) ist es Wissenschaftlern vom Institute for Bioscience and Biotechnology Research (IBBR) und dem Center for Biomedical Engineering and Technology (BioMET) an der University of Maryland, Baltimore, in einer Reihe von Experimenten gelungen, ein neues molekulares Modell der biologisch aktiven Form Lithium zu erstellen. Darüber hinaus berichten die Forscher von Hinweisen, dass diese bioaktive Form die Aktivität eines Signalwegs in Nervenzellen des Gehirns (Neuronen) deutlich verlängern kann. Erschienen sind die Ergebnisse der Arbeit in der neuen Ausgabe des Biophysical Journals.
Wenn auch nicht bei allen Patienten wirksam, gilt Lithium als die erste Wahl bei der medikamentösen Behandlung einer akuten bipolaren Störung. Obwohl die Zulassung des Präparates zur Langzeitbehandlung im Jahr 1970 mittlerweile fast fünf Jahrzehnte zurückliegt, ist es auch heutzutage noch weitgehend unklar, wie diese Substanz eigentlich wirkt.
Niemandem ist es bisher gelungen, die Bindungsstelle auf einem Protein zu identifizieren, über welche Lithium seine pharmakologischen Wirkungen ausüben könnte. Das bedeutet, es gibt nach wie vor kein Target, das für die Entwicklung neuer Arzneimittel genutzt werden könnte. Das Target, das die neue Studie jetzt finden konnte, entspricht interessanterweise nicht der typischen Bindungsstelle, wie man sie von anderen Medikamenten kennt.
Die Arbeitsgruppe aus Maryland glaubt, dass ihr Modell eine neue Perspektive bietet, welche der Forschung dabei helfen könnte, die biochemischen Prozesse, über die Lithium seine psychologischen Effekte erhält, zu verstehen. Das Modell könnte darüber hinaus dazu beitragen, neue Behandlungen für affektive Störungen zu entwickeln, die genauso effektiv wie Lithium sind, aber weniger Nebenwirkungen mit sich bringen.
In ihrem Modell agiert Lithium als eine Art Kraftmultiplikator, der Molekülkomplexe, die im Wesentlichen aus Phosphat und Magnesium bestehen, einen sanften, aber sehr hilfreich Schubs gibt. In gewisser Weise könnte Lithium einen Performance-Modulator für diese funktionell sehr unterschiedlichen Komplexe darstellen.
Der wahrscheinlich am weitesten verbreitete und einflussreichste Komplex ist ein Molekül, das unserem Körper als “chemischer Brennstoff” und zelluläres Signalmittel dient – gemeint ist das Adenosintriphosphat, oder kurz ATP. Damit Zellen die Energie dieser Verbindung anzapfen können, müssen positiv geladene Magnesium-Ionen an ATP binden – eine Grundbedingung für die meisten biologischen Funktionen und Prozesse.
Lithium-Ionen haben ebenfalls eine gewisse Affinität zu Phosphatverbindungen, einschließlich ATP, sowie einer Anzahl von Proteinen, die als ATP herstellende oder verbrauchende Enzyme bekannt sind. Auf der Grundlage früherer Arbeiten suggerierten einige Wissenschaftler, dass Lithium Magnesium möglicherweise kompetitiv von der gemeinsamen Bindungsstelle verdrängt und dadurch diese Enzyme hemmt. Allerdings ist die Theorie bei weitem nicht schlüssig.
In der neuen Studie begannen die Forscher deshalb mit der Hypothese, dass Lithium in diesen Phosphat-Komplexen mit Magnesium zusammenarbeitet oder zumindest koexistiert. In einer Reihe von NMR-Experimenten, die die gleichen magnetischen Eigenschaften der Atome auszunutzen, die auch MRT-Aufnahmen in Krankenhäusern generieren, erlangte das Team Beweise dafür, dass Lithium-Ionen eine “enge Verbindung” mit sowohl Magnesium-Ionen als auch Phosphaten ausbilden können.
In Konzentrationen, die der normalen Dosierung einer Behandlung entsprechen, beobachtete man, dass Lithium-Ionen durch ATP-Magnesium-Verbindungen angezogen wurden und einen ATP-Magnesium-Lithium-Komplex bildeten. Dieser Komplex könnte laut der Arbeitsgruppe die ATP-Funktionen im Gehirn und anderen Orten im Körper beeinflussen. Die gleiche Dreier-Interaktion aus Lithium, Magnesium und Phosphat könnte darüber hinaus eine Verbindung zu früheren Studien herstellen, die scheinbar unzusammenhängende Enzyme als Ziele für die Lithium-Ionen identifiziert haben.
Ein Ort an dem diese Wechselwirkung von kritischer Bedeutung sein könnte, sind die Oberflächen von Neuronen, an denen unterschiedliche Rezeptoren exprimiert werden, die ATP binden. Um dieser Theorie auf den Grund zu gehen, behandelte das Team Rattennervenzellen mit Lösungen, die ATP, Magnesium- und Lithium-Ionen einzeln und in Kombination enthielten. Für jede dieser Mischungen, überwachte sie das Verhalten eines ATP-Rezeptors, der einen bestimmten Kanal öffnet und den Fluss von Kalzium-Ionen in die Neuronen ermöglicht – eine Schlüsselreaktion bei der neuronalen Signalübertragung. Alle Kombinationen lösten diese erste Reaktion aus. Allerdings blieb der Rezeptor bei der ATP-Magnesium-Lithium-Kombination um ganze 40 Prozent länger aktiv als bei der physiologischen ATP-Magnesium-Kombination. Ob und wie diese verlängerte Signalantwort zu der stimmungsstabilisierenden Wirkung von Lithium beiträgt, muss noch untersucht werden.
Die Autoren der Studie machen deutlich, dass dies nicht die endgültige Erklärung darstellen muss. Es gäbe durchaus eine große Bandbreite an anderen Möglichkeiten, die überprüft werden sollten. Nichtsdestotrotz bietet dieses neue Modell eine faszinierende neue Möglichkeit, die bioaktive Form von Lithium im Großen und Ganzen zu erforschen.
Text: esanum/ pvd
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