Folgenreiche Übernahme: Philip Morris und Vectura Logo of esanum https://www.esanum.de

Wenn der weltgrößte Tabakhersteller an den Inhalativa mitverdient

Vergangenen Herbst hat Philip Morris, der Hersteller von Marlboro, das britische Pharmaunternehmen Vectura übernommen, welches auf Inhalationsprodukte für Atemwegserkrankungen spezialisiert ist.

Vergangenen Herbst hat Philip Morris, der Hersteller von Marlboro, das britische Pharmaunternehmen Vectura übernommen, welches auf Inhalationsprodukte für Atemwegserkrankungen spezialisiert ist.

Kernpunkte 

Am 16. September 2021 gab Philip Morris International (PMI) bekannt, dass sein Übernahmeangebot für das Pharmaunternehmen Vectura erfolgreich war. PMI schlug für Vectura, das sich auf Inhalatoren gegen Asthma und chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) spezialisiert hat, einen Wert von 1,1 Mrd. GBP vor. Das Angebot wurde vom Vorstand von Vectura einstimmig angenommen. Mitte September 2021 hatte der Tabakriese mehr als 75% der Aktien von Vectura erworben, sodass es für die verbleibenden Anteilsinhaber kaum einen Grund gab, nicht zu verkaufen.3 PMI beantragte daraufhin die Streichung von Vectura von der Londoner Börse und die Neuregistrierung als private Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Am 1. Oktober hielt PMI 97% der Anteile und war in der Lage, den Kauf der restlichen Aktien zu erzwingen.1 Als privates Unternehmen wird Vectura weniger Verpflichtungen zur Berichterstattung und Offenlegung haben.

Darüber hinaus bestätigte PMI ein Abkommen im Wert von 820 Mio. Dollar mit dem dänischen Hersteller von Kaugummis, Tabletten und anderen oralen Nikotinprodukten, Fertin Pharma, der als hundertprozentige PMI-Tochtergesellschaft agieren wird.4 Etwa zur gleichen Zeit kaufte PMI auch den US-amerikanischen, auf Inhalativa spezialisierten Medikamentenhersteller Oti-Topic.

Reaktionen auf die Übernahme

Weltweite Gesundheitsorganisationen verurteilten die Übernahme.5 Mehrere britische Gesundheitsverbände, darunter die British Lung Association, Asthma UK und Action on Smoking and Health (ASH), wandten sich schriftlich an die damalige Unterstaatssekretärin für öffentliche Gesundheit, Jo Churchill, um ihre "höchste Besorgnis" über die Übernahme zum Ausdruck zu bringen. "PMI ist nur deshalb in der Lage, Vectura zu übernehmen, weil es enorm vom Zigarettenverkauf profitiert hat und sich gleichzeitig der Verantwortung für die externen Kosten des Rauchens entzieht, einschließlich Gesundheitsschäden, Produktivitätsverlust und Umweltzerstörung", hieß es in dem Brief.4

Die britische Regierung verfolgte alle Entwicklungen im Zusammenhang mit der Übernahme von Vectura und entschied, dass dem Übernahmevorhaben kein wichtiges öffentliches Interesses entgegenstünde.1
Dieser Untätigkeit zum Trotz gab es einen Backlash aus Fachkreisen: Vectura wurde nach Bekanntwerden der Kollaboration von mehreren Fachkonferenzen als Sponsor ausgeschlossen. Britische Ärzte und Patienten kündigten zudem an, auf andere Inhalationssystemhersteller wechseln zu wollen.6 Dies ist allerdings schwierig, weil die Inhalatortechnologie von Vectura an mehrere andere bekannte Pharmaunternehmen lizenziert ist. Die Trockenpulverinhalatoren für COPD-Medikamente von Vectura wurden ursprünglich an einem Forschungszentrum der Universität Bath entwickelt. In den späten 1990er Jahren wurde ein Tochterunternehmen mit Vectura fusioniert.1 Aktuell verbleiben hauptsächlich nur zwei andere Pharmaunternehmen, die von den Wechslern profitieren könnten.

Noch mehr Symptome eines chronisch kaputten Systems

"PMI und andere Tabakunternehmen haben eine lange Geschichte darin, Tabak-Kontrollpolitiken ihres finanziellen Vorteils willen zu unterwandern und Forschung zu manipulieren7", heißt es in dem Brief der britischen Gesundheitsorganisationen weiter. "Es wurden Bedenken geäußert, dass solches Verhalten möglicherweise derzeit andauert, nachdem Unregelmäßigkeiten in ihren aktuellen klinischen Studien berichtet wurden.8,9 [...] Unsere Sorge, dass diese Übernahme es PMI ermöglichen wird, eine Einflussnahme der Tabakindustrie in Gesundheitsdebatten zu legitimieren und eine größere Plattform schafft, von der aus ähnliche Taktiken zur Unterstützung der Interessen der Tabakindustrie eingesetzt werden können, haben wir vormals an die Regierung herangetragen."10

Gesundheit und Wissenschaft sind einfach unvereinbar mit der Überlagerung durch finanzielle Interessen von Industrien und Einzelnen. Am schlimmsten erscheint bei alledem, dass sich genau dies seit anno dazumal unaufhörlich wiederholt. Erst kurz vor dieser Begebenheit kaufte ein namhafter Hersteller von E-Zigaretten eine "wissenschaftliche" Zeitschrift auf und brachte darin knapp ein Dutzend günstig ausfallender, selbst gesponserter Studien unter, wir berichteten.

Auch außerhalb der Tabakindustrie ist die Liste endlos. Man denke an die Zuckerindustrie, die in den 60er Jahren Studien und Publikationen finanzierte, um Nahrungsfette als hauptschuldig für die steigenden Raten kostenintensiver chronischer Erkrankungen, wie der KHK, darzustellen und für den Zucker nachteilige Studienergebnisse jahrelang unter Verschluss hielt. Oder Fast Food-Hersteller, die seit den 70er Jahren zahlreiche beliebte Diätunternehmen aufkauften, darunter Weight Watchers und SlimFast, sodass sie sogar an den Menschen noch großes Geld verdienen konnten, die gerade versuchen wollten, das Gewicht wieder zu verlieren, welches sie durch den Konsum ihrer Produkte zugelegt hatten.

Wie viele klare Zeichen eines von Interessenkonflikten vergifteten Feldes und des Versagens von Gesetzgebern und Regulationsorganen in dieser Hinsicht können wir uns als Gesellschaft noch leisten, bevor es entweder zu Reformen kommt oder die Gesundheit und Tragbarkeit des Systems nicht mehr zu rehabilitieren ist?

Referenzen:
1. Vectura - TobaccoTactics. https://tobaccotactics.org/wiki/vectura/.
2. Products, C. for T. Health Effects of Tobacco Use. FDA https://www.fda.gov/tobacco-products/public-health-education/health-effects-tobacco-use (2022).
3. Burki, T. K. Philip Morris International purchases Vectura. The Lancet Respiratory Medicine 9, e122 (2021).
4. 2021 in review: As smoking declines, tobacco alternatives take up the slack. TobaccoIntelligence https://tobaccointelligence.com/2021-in-review-as-smoking-declines-tobacco-alternatives-take-up-the-slack/ (2022).
5. Canadian Lung Association condemns acquisition of Vectura by Philip Morris International. the lung association https://www.lung.ca/news/latest-news/canadian-lung-association-condemns-acquisition-vectura-philip-morris-international (2022).
6. Vectura’s Inhaler Sales May Suffer Over Philip Morris Backlash - Bloomberg. https://web.archive.org/web/20211011134355/https:/www.bloomberg.com/news/articles/2021-10-11/vectura-s-inhaler-sales-may-suffer-over-philip-morris-backlash (2021).
7. Bero, L. A. Tobacco industry manipulation of research. Public Health Rep 120, 200–208 (2005).
8. Scientists describe problems in Philip Morris e-cigarette experiments. Reuters.
9. Gilmore, A. B. & Braznell, S. US regulator adds to confusion around heated tobacco products. BMJ 370, m3528 (2020).
10. Sarah Woolnough. 🚨We have written to the public health minister @Jochurchill4 to highlight our deep concerns about PMI takeover of respiratory treatment maker Vectura & consequences across govt & research bodies Cc @sajidjavid @CMO_England @uksciencechief @BorisJohnson ⬇️ https://t.co/fofZLuLMuK. @swoolnough https://twitter.com/swoolnough/status/1438420408479408128 (2021).