Krebszellen sind ursprünglich normale Zellen, die durch schlechte Entwicklungsentscheidungen während ihrer Lebensspanne gewissermaßen vom rechten Weg abkommen. In einer neuen Studie (DOI: 10.7554/eLife.08924) haben Wissenschaftler der Northwestern University in den USA neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie unsere Zellen in ihrer Entwicklung vom undifferenzierten Zustand in einen differenzierten, beziehungsweise spezialisierten Zustand wechseln und wie dieser Prozess bei Krebs schief laufen kann. Für ihre Untersuchungen verwendeten die Forscher Fruchtfliegen als Modell für ein Onkogen, das in vielen Leukämieerkrankungen des Menschen eine Rolle spielt.
Bei dem Auge einer Fruchtfliege handelt es sich um eine hochkomplexe Struktur aus vielen verschiedenen Zellen, wie zum Bespiel lichtempfindlichen Neuronen oder Zäpfchen-Zellen. Da Fliegen mit uns Menschen viele krebsauslösende Gene teilen, verwenden viele Wissenschaftler das gut strukturierte Facettenauge von Drosophila Melanogaster (der gemeinen Fruchtfliege) als Modell, um zu erforschen, wie Krebs im Menschen entstehen kann.
Ein interdisziplinäres Team von Biologen unter der Leitung von Richard W. Carthew und Ingenieur Luís A.N. Amaral untersuchte das physiologische Verhalten von Zellen im sich entwickelnden Fliegenauge. Die Forscher waren überrascht, als sie entdeckten, dass die Konzentrationen eines wichtigen Proteins namens Yan immer dann stark zu schwanken begannen, wenn die Zelle von einem primitiveren, Vorbau-ähnlichen Zustand, in einen stärker spezialisierten Zustand gewechselt ist. Wenn die Proteinlevels nicht schwanken konnten oder nicht geschwankt sind, stoppte die Entwicklung der Zelle und blieb somit im aktuellen Stadium stecken.
Carthew, Professor für Molekulare Biowissenschaften am Northwestern Weinberg College of Arts and Sciences erläutert, dass diese “verrückten Fluktuation” (auch Lärm genannt) immer genau dann stattfinden, wenn die Zelle in die nächste Entwicklungsstufe eintritt. Zum ersten Mal konnte die Arbeitsgruppe somit einen kurzen Zeitraum identifizieren, der die entwickelnden Zelle von Punkt A nach Punkt B in ihrer Entwicklung bringt. Die Fluktuationen sind eine Art Zwischenzustand, der essentiell für die Zellen ist, um in einen stärker spezialisierten Zustand überzugehen. Dieser Schwebezustand stellt möglicherweise den Zeitpunkt dar, an dem die normale Zelle zu einer Krebszelle wird.
Auch fanden die US-Forscher heraus, dass ein molekulares Signal, welches durch einen Rezeptor namens EGFR empfangen wird, für das Abschalten des Lärms verantwortlich ist. Wenn dieses Signal fehlt beziehungsweise nicht empfangen wird, verbleibt die Zelle in dem unkontrollierten Zustand der Fluktuationen.
Durch die Entdeckung des Lärms und seinen “Aus-Schalter“ als wichtige Punkte der Zelldifferenzierung, werden der Wissenschaft neue Ansätze geboten, um weiter zu ergründen, wie Zellen außer Kontrolle geraten und sich in Krebszellen verwandeln können.
Das durch die Arbeitsgruppe studierte “lärmende” Protein heißt in der Fliege Yan und im Menschen Tel-1. Bei Tel-1 handelt es sich um einen Transkriptionsfaktor. Es ist dafür verantwortlich Zellen dazu anzuleiten sich in weiße Blutkörperchen zu verwandeln. Als Onkogen ist Tel-1 sehr häufig bei der Leukämie mutiert.
Das EGFR Protein, welches den Lärm beziehungsweise die Fluktuationen in der Fliege abschaltet, heißt im Menschen Her-2. Her-2 ist wiederum ein Onkogen, das bei menschlichen Brustkrebserkrankungen eine wichtige Rolle spielt.
“Von außen betrachtet sind Fliegen und wir Menschen sehr verschieden – aber wir teilen in Wirklichkeit eine beachtliche Menge an Infrastruktur”, sagt Carthew. “Mit Hilfe der Genetik der Fruchtfliege können wir verstehen, wie Menschen auf dieser Ebene funktionieren und was alles schief geht, wenn Krebs und andere Krankheiten auftreten.”
“In der Vergangenheit hat die Forschung unzählige Modelle von regulatorischen Netzwerken entworfen, welche die Zelldifferenzierung steuern. Geglückt ist dies in den meisten Fällen durch das Abschalten von ein oder zwei Komponenten des Netzes auf Genebene. Die daraus entstehenden und beobachteten Veränderungen ermöglichen im Folgenden oft die Übersetzung in ein entsprechendes Modell“, erklärt Amaral, ein Professor für chemische und biologische Ingenieurswissenschaft an der McCormick School of Engineering. “Wir hingegen betrachteten und vermaßen die Netzhaut noch während ihrer Entwicklung und fanden dabei das unerwartete Verhalten der regulatorischen Schlüsselfaktoren Yan und EGFR.”
Die Forscher entwickelten neue Werkzeuge, mit denen sich die Funktion des Lärms bei der Entwicklung der Fliege untersuchen lassen. Die Methoden ermöglichten es, die Konzentrationen des Yan-Proteins und seine Schwankungen (Lärm) ohne größeren Aufwand zu vermessen.
Eine Zelle der Fruchtfliege braucht in etwa 15 bis 20 Stunden, um von einer undifferenzierten Vorläuferzelle zur differenzierten und fertigen Zelle zu werden. Bei Peláez Messungen stellte man fest, dass das Yan-Protein für sechs bis acht Stunden von dieser Zeit fluktuiert und “Lärm erzeugt”.
Peláez gibt an, dass uns “das Untersuchen der Dynamiken von Molekülen, welche an der Regulierung der Entwicklung des Auges beteiligt sind, viel über die Entstehung menschlicher Krankheiten verraten kann. Der Einsatz von Modellorganismen wie der Fruchtfliege hilft uns die biologischen Grundprinzipien der Zelldifferenzierung in komplexeren Tieren zu verstehen.“
Text: esanum / pvd
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