Bayern im Baby-Boom: 2016 kamen in vielen Städten im Freistaat so viele Neugeborene zur Welt wie seit Jahren nicht mehr. Das ergab eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur. Die niedergelassenen Kinderärzte stellt die steigende Geburtenzahl vor ein Problem: Ihre Wartezimmer werden voller und voller.
"In der Kinder- und Jugendmedizin haben wir zunehmend Versorgungsprobleme", sagt Martin Lang, Vorsitzender des bayerischen Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ). In vielen Regionen würden Eltern mit Kindern, die sich neu in einer Praxis anmelden wollen, abgewiesen – auch vier oder fünf Mal hintereinander. "Wir nehmen nur noch Familien auf, die frisch entbunden haben oder neu nach Augsburg gezogen sind", sagt Lang über seine eigene Praxis.
Der Kinder- und Jugendmediziner Stephan Böse-O'Reilly leitet seit 24 Jahren eine Praxis in München. Auch er spüre, dass es mittlerweile deutlich mehr Kinder gibt. Regelmäßig müsse seine Praxis Patienten ablehnen, etwa "50 Prozent der Anfragen", sagt Böse-O'Reilly.
München hat 2016 mit insgesamt 18 107 Neugeborenen einen Geburtenrekord erzielt. Die Zahl entspricht einem Anstieg von 5,6 Prozent im Vergleich zu 2015. In Augsburg sind insgesamt 5578 Kinder zur Welt gekommen, rund 350 mehr als im Vorjahr. "In den letzten fünf Jahren ist die Geburtenzahl um 20 Prozent gestiegen", sagt Karl Krömer, Leiter des Augsburger Standesamtes. Und es gehe weiter bergauf.
Ein Geburtenhoch erlebt auch Nürnberg: Mit 5539 Neugeborenen sind dort 2016 so viele Kinder auf die Welt gekommen wie seit 1969 nicht mehr. Würzburg zählte 4201 Neugeborene, 160 mehr als im Vorjahr. Die Tendenz sei einer Stadtsprecherin zufolge steigend. In Passau sind 2208 Kinder zur Welt gekommen, 2015 waren es 1715. Tendenz laut Stadtsprecher Herbert Zillinger: steigend.
Einer der Gründe für diese Entwicklung liegt laut Sozialministerium in der Familienpolitik der letzten Jahre. In Bayern gilt etwa: Eltern können entweder ihr Kind in einer Kita betreuen lassen oder eine Betreuung privat organisieren. Beide Varianten unterstützt der Freistaat finanziell mit dem Betreuungsgeld. Auch die Wirtschaftslage und die hohe Zahl der verfügbaren Stellen trage "dazu bei, dass immer mehr Paare 'ja' zum Kind sagen", teilte eine Ministeriumssprecherin mit.
Und auf dem Papier ist der Nachwuchs medizinisch bestens versorgt. Der sogenannte Versorgungsgrad misst das Verhältnis der Kinderärzte in einem Stadt- oder Landkreis zu den Einwohnern unter 18 Jahren. Danach herrscht in den großen Städten sogar eine Überversorgung.
Wie aber passt dieses Bild zu den Engpässen in den Arztpraxen? Das Problem ist, dass die Zahlen nicht die ganze Realität abbilden. So schließen sie neben den allgemeinen Kinderfachärzten auch die Spezialisten unter den Kinderärzten ein, zum Beispiel Kinderkardiologen. Die kümmern sich aber nicht um Patienten mit häufig auftretenden Erkrankungen wie Erkältungen oder Windpocken, sondern übernehmen nur Fälle, die in ihr Fachgebiet fallen.
Dazu kommt: Wenn der Versorgungsgrad in einem Stadt- oder Landkreis über 110 Prozent steigt, ist dieser für neue Kassensitze gesperrt. Das heißt, neue Kinderärzte können sich dort nicht niederlassen, es sei denn, ein Kollege geht in den Ruhestand. Dieser Regelung liegt ein Bedarfsplan zugrunde, der in den 1990er Jahren vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossen wurde. Das ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland.
"In den letzten 20 Jahren ist die Geburtenzahl kontinuierlich gesunken, und das war auch die weitere Prognose", sagt Kinder- und Jugendmediziner Lang. Man habe bis vor kurzem nicht mit einer Trendwende gerechnet. "Die Bevölkerungszahl hat sich verändert, die Zahl der Kinder- und Jugendarzt-Sitze aber nicht", kritisiert Lang.
Gleichzeitig sei die Patientenbetreuung umfassender geworden. Kinderärzte würden heute mit mehr Vorsorgeuntersuchungen und neuen Themengebieten betraut, wie Entwicklungsauffälligkeiten oder Verhaltensstörungen. Der Münchner Mediziner Böse-O'Reilly fügt hinzu: "Es gibt einen zunehmenden Trend zur Teilzeit, weil sich viele Ärztinnen und Ärzte mehr um ihre Familien kümmern wollen." All das führe zu Engpässen in den Kinder- und Jugendarztpraxen.
Der BVKJ Bayern fordert nun, dass der Bedarf neu berechnet wird, damit sich mehr Kinderärzte in den Städten und auf dem Land niederlassen können. Unterstützung bekommt er von der KVB, wo man sich des Problems bewusst sei. "Der grundsätzliche Engpass, den die Eltern spüren, kann man nur angehen, wenn man die Bedarfsplanung reformiert", sagt KVB-Sprecherin Birgit Grain. Wann es so weit ist, sei allerdings noch nicht abzusehen.
Ein Sprecher des Gesundheitsministeriums teilte mit, dass zuletzt ein Gutachten in Auftrag gegeben worden sei, "das u.a. im internationalen Vergleich Potenziale zur Weiterentwicklung und Verbesserung der Bedarfsplanung aufzeigen soll". Mit den ersten Ergebnissen sei Anfang 2018 zu rechnen. Auf dieser Grundlage soll die Bedarfsplanung dann angepasst werden.