Die ambulante Versorgung wird deutlich digitaler werden, sagen viele Expert:innen. Auf der Veranstaltung "StartUp Praxis" diskutierten Vertretende aus Medizin, Wirtschaft und Politik Chancen und Risiken der digitalen Gesundheitsmedizin. Oliver Neumann, Geschäftsführer der CyberDoc und CyberConcept GmbH, erklärt im Interview seine Erfahrung und Erwartungen.
esanum: Herr Neumann, im Rahmen der 3. "StartUp Praxis" sprachen Sie über "Die Pubertät der Telemedizin. Und wie sie erwachsen wird". Was bezeichnen Sie hier als “"Pubertät" - und wie wird die Telemedizin "erwachsen"?
Neumann: Das Stichwort Pubertät habe ich gewählt, weil in dieser Zeit viele Dinge zusammenkommen. Das ist wie der Wechsel des Betriebssystems bei laufender Nutzung Es passieren ganz viele neue Dinge gleichzeitig, die uns vor große Herausforderungen stellen. Und genauso ist es gerade bei der Telemedizin. Rein zeitlich ist die Telemedizin sogar noch in den Kinderschuhen. Es gibt im laufenden Prozess weiter volle Wartezimmer, die Mediziner haben genug zu tun. Und jetzt kommt die Telemedizin dazu und daraus entsteht unter Umständen eine Trotzreaktion. Manche Mediziner sagen: Ich habe zwar verstanden, dass es für die Zukunft wichtig ist, aber im Praxisalltag kann ich es nicht einbauen - ich habe keine Zeit, die Mitarbeiter sind nicht geschult, ich verdiene nicht genug daran. Erwachsen wird die Telemedizin dann, wenn die Mediziner und Medizinerinnen verstehen, dass ihnen das Ganze große Vorteile bietet.
esanum: Auf Ihrer Homepage steht, dass jede vierte Arztpraxis die Videosprechstunde nutzt. Mit welchen Argumenten würden Sie die übrigen drei Viertel überzeugen, ebenfalls diesen Schritt zu gehen?
Neumann: Telemedizin kann sehr entlasten. Wenn die Videosprechstunde zum Praxisalltag dazu gehört, habe ich Möglichkeiten, die Patienten besser zu begleiten. Das bedeutet weniger Stress im Praxisalltag, weil ich Monitoring wie Diabetesüberwachung, Blutwertebesprechungen oder auch Husten, Schnupfen, Heiserkeit über die Videosprechstunde abwickeln kann. Damit kann ich viel Zeit sparen für andere wichtige Dinge und für Patientinnen, die ich persönlich sehen muss, denen ich die Zeit dann widmen kann.
Doch wir müssen und sollen eigentlich gar nicht viel argumentieren. Der Arzt, die Ärztin erkennt ohnehin irgendwann, dass es ohne digitalen Fortschritt in der Praxis nicht funktioniert, weil der Patient, die Patientin irgendwann bestimmen wird, zu welchem Arzt er/sie geht. Wenn mein Arzt digital nicht dabei ist, dann ist es ein anderer. Die Generation, die mit dem Handy aufgewachsen ist, die bei jeder Frage erstmal im Netz nachguckt, die verlangt demnächst die Möglichkeit einer Videosprechstunde zur Anamnese, zum Monitoring oder zur Online-Termin-Vergabe, sonst bleibt sie weg. Das ist natürlich ein langfristiger Prozess. Noch sind die Wartezimmer voll, das wiegt Medizinerinnen und Mediziner in Sicherheit. Aber man sollte sich angesichts der absehbaren Entwicklungen jetzt schon technisch darauf vorbereiten, dass diese Dinge praxisrelevant werden.
esanum: Wo sehen Sie die größten Vorteile der Videosprechstunde?
Neumann: Sie bringen eine klare Zeitersparnis für die Praxen. Praxen können viel effektiver arbeiten. Das Terminmanagement über online-Terminvergabe läuft besser. Es kann ein viel größerer Kreis an Menschen erreicht werden. Und auch für die Patientinnen und Patienten gibt es eine Riesenzeitersparnis. Ansteckungsgefahren werden reduziert. Sie können ihren Arzt viel flexibler von überallher erreichen. Und: sie können sich den erfahrensten Spezialisten aussuchen. Insbesondere in ländlichen Regionen sichert die Telemedizin (Fern-Medizin) die Patientenversorgung und verbindet die Versorgungsstrukturen (ambulant-stationär) miteinander.
esanum: Welcher Aspekt der Telemedizin hat Ihrer Ansicht nach das größte Ausbaupotenzial?
Neumann: Irgendwann wird sie ein wesentliches Tool zur Behandlung darstellen. Das ist ganz klar. Wichtig sind jetzt einfache Schnittstellen für die Praxen, das ist der technische Aspekt. Hinzu kommt das elektronische Rezept, eine vernünftige Anamnese, die online-Terminvereinbarung und die Anbindung der Daten an die elektronische Patientenakte. Bei letzterem sehe ich auch das größte Potenzial. Es gibt noch keine Einigkeit darüber, wer die Hoheit über die Patientendaten hat. Aus meiner Sicht kann das nur der Patient, die Patientin sein. Aber wir müssen die Daten vernetzen und kombinieren, damit wir zu einer präventiven, individualisierten Medizin kommen. Das geht nur mit Datensharing.
esanum: Wie kann die Datensicherheit jederzeit gewährleistet werden?
Neumann: Videosprechstunden haben die größte Datensicherheit, die es geben kann. Man muss nur den jetzigen Voraussetzungen der Zertifizierung der Videosprachstunde entsprechen. Die Daten müssen end zu end verschlüsselt sein, sie dürfen nur auf einem europäischen Server gehostet sein, also nicht auf einer AWS-Cloude. Das ist der Gold-Standard.
esanum: Sehen Sie bei der Videosprechstunde ein Risiko, dass die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung zu kurz kommen kann?
Neumann: Nein, gar nicht. Die Sorge wird manchmal vorgeschoben, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Studierende haben immer schon gelernt, dass 75 Prozent der Diagnosen über Fragen gestellt werden. Das kann ich per Video sehr gut machen und die Sprechstunde effektiver gestalten. Wenn ich den Patienten dann wirklich sehen muss, kann ich mir mehr Zeit nehmen. Das stärkt die Arzt-Patienten-Beziehung eher noch. Oft kann schon per Videosprechsunde auch Entwarnung gegeben werden, sodass der Patient sich keine Sorgen machen muss. Deswegen ist es sehr wichtig, dass erfahrene Ärzte die Videosprechstunde anbieten, die alles gut beurteilen können.
Und ebenfalls 75 Prozent der Menschen sagen, sie können sich eine Erstbehandlung per Videosprechstunde vorstellen. Die Pandemie war hier ein zusätzlicher Treiber. Für Patientinnen und Patienten ist es sinnvoll, sich jetzt schon technisch darauf einzustellen, auf eine entsprechende Seite zu gehen, zu gucken, ob der eigene Arzt schon dabei ist, ihn vielleicht auch einzuladen. Und die eigenen Daten einzupflegen, bevor man akuten Bedarf hat. Ärzte, die an den Start gehen wollen, können ihre Patienten genauso gut darauf einstellen und beispielsweise ein Erklärvideo als Hilfestellung auf ihre Seite stellen – und damit Vertrauen aufbauen.
esanum: Ein weiteres digitales Tool, das die Kommunikation zwischen Ärztinnen und Patientinnen aus der Ferne verbessern kann, stellen Digitale Gesundheitsanwendungen dar. Welchen Wert messen Sie DiGAs bei?
Neumann: Ich sehe dort einen großen Mehrwert, weil wir damit einfache Prozesse digital abbilden können. Diese Verschreibungen zielen ja auf das Gesundheitsverhalten des Patienten ab. Und wenn wir hier Datensharing und Datensicherheit miteinander verbinden, können wir damit sehr gut präventiv arbeiten. Bestimmte Tools zum Monitoring verbessern dann nicht nur den Austausch von Arzt und Patient, sondern auch unter den Patientinnen. Gerade bei der Einstellung von Insulin sieht man gute Effekte.
Insgesamt ist sicher: Theoretisch ist digital längst viel mehr möglich als jetzt bereits im Praxisalltag üblich ist.