Wer von Nadrensee im äußersten südlichen Zipfel Vorpommerns nach Pasewalk zum Augenarzt möchte, hat schlechte Karten: Mit Bus oder Bahn – dem öffentlichen Personennahverkehr – wird er an einem Wochentag die Praxis in Pasewalk vielleicht noch erreichen, aber nicht bis 24 Uhr desselben Tages wieder nach Hause zurückkehren können. Die Einwohner in Nadrensee stehen mit ihrem Problem nicht allein da – allein in rund 200 kleinen Orten in Vorpommern gibt es keine Verbindung im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für eine Hin- und Rückfahrt zu einem Augenarzt am selben Tag.
Ein ähnlich lückenhaftes Bild zeigt sich bei Internisten oder Kinderärzten. Nicht ein Kinderarzt praktiziert zwischen den 50 Kilometer entfernten Orten Pasewalk und Anklam. Wer kein Auto aber Kinder hat, sollte nicht auf Dörfern im südlichen Vorpommern oder südlich von Grimmen leben. Auch auf Rügen wird es kompliziert, wenn die nächste turnusmäßige Untersuchung ansteht oder das Kind Husten hat und man als Eltern kein Auto hat.
Ein Versorgungsatlas gibt jetzt erstmals einen Überblick über die medizinische Versorgungsstruktur und die Erreichbarkeit von Ärzten und Krankenhäusern im dünn besiedelten Vorpommern. Der Atlas mit 79 detaillierten Karten wurde von Mitarbeitern des Instituts für Community Medicine an der Universität Greifswald erstellt. Die Daten sind ernüchternd, stellen aber eine solide Basis dar, die Probleme anzugehen.
“Mit dem Atlas haben Kassenärztliche Vereinigung, Krankenkassen, Ärzte wie auch Kommunen eine Grundlage für eine abgestimmte Planung”, sagt die Gesundheitsforscherin Neeltje van den Berg. Bislang erfolge die Krankenhaus- und Praxenplanung weitgehend getrennt von der Infrastrukturplanung. Der ÖPNV sei auf Schulkinder ausgerichtet, nicht auf die Arztpraxen. Wenn Schule, Einkaufszentrum und Arztpraxis an einem Ort seien, könne ein Teil der Probleme gelöst werden, zeigen sich die Forscher optimistisch.
Kreative Lösungen müssen her, wenn durch den demografischen Wandel nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Versorgungsstrukturen ausdünnen. “Dort, wo Lücken in der Versorgung auftreten und die Entfernungen zu groß sind, müssen innovative Versorgungskonzepte umgesetzt werden”, sagt Institutsdirektor Wolfgang Hoffmann. Erforderlich sind nach Auffassung der Greifswalder Forscher durchlässigere Konzepte zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Warum soll ein Kinderarzt im Krankenhaus kleine Patienten nicht auch ambulant behandeln dürfen? Warum soll ein Hausarzt nicht auch Kinder untersuchen, wenn ihm per Telemedizin ein Kinderarzt zur Seite steht?
Die Forscher sind überzeugt, dass das wohnortnahe Hausarztsystem unbedingt aufrecht erhalten werden muss, um die Grundversorgung auch künftig in ländlichen Regionen zu sichern. Hingegen werden sich Fachärzte in den Ober- und Mittelzentren konzentrieren, zu denen die Patienten reisen. Allerdings müsse dann aber gewährleistet sein, dass der Patient den Arzt erreichen kann. “Entscheidend ist die Frage, wie erhält der Patient die medizinische Versorgung, die er für seine Krankheit benötigt”, sagt Hoffmann.
Der Kreis Vorpommern-Greifswald will die Leitstelle – bislang für Rettungsdienst und vorbeugenden Brandschutz zuständig – zu einem Koordinierungszentrum ausbauen. Künftig sollen darüber Arzttermine und -besuche organisiert werden und Patienten mit “Bürgermobilen”, kleinen E-betriebenen Bussen gefahren werden. “Wir wollen ein dickes Brett bohren”, sagt Sozialdezernent Dirk Scheer zu dem Vorhaben.
Der Versorgungsatlas offenbart durchaus auch Potenziale: So ist das Netz an Apotheken und Zahnärzten auch in ländlichen Regionen sehr eng gestrickt. “Diese Leistungserbringer müssten stärker in die regionale medizinische Versorgung integriert werden”, sagt van den Berg. Bislang dürfe beispielsweise ein Zahnarzt keine Überweisung für andere Ärzte ausstellen. Auch Apotheker verfügten über ein profundes Wissen, beispielsweise in Bezug auf Wechselwirkungen von Medikamenten, das bislang noch nicht umfassend abgeschöpft werde.
Text und Foto: dpa /fw