Dora Merkel hat in diesem Jahr nur drei Mal ihr Haus verlassen – für zwei Krankenhausaufenthalte und einen Arztbesuch. So schlecht sei sie zu Fuß, erzählt die 78-Jährige. Seit einem Jahr klingelt regelmäßig die Versorgungsassistentin Aycan Schock (40) an ihrer Tür in Bietigheim-Bissingen. Sie untersucht Merkel im Auftrag des Hausarztes in deren Wohnung. “Das ist für mich eine große Erleichterung”, sagt die Patientin, die am Rollator geht. So bleibt ihr der Weg durch das Treppenhaus im Tragetuch und der Transport mit dem Krankenwagen zur Praxis erspart. “Ich habe immer Ängste ausgestanden, wenn die mich in der Sänfte runtergetragen haben.”
Versorgungsassistentinnen in Hausarztpraxen (VERAH) wie Aycan Schock sind seit mehr als fünf Jahren unterwegs. Es gibt immer mehr ältere Menschen, die an mehreren, oft chronischen Krankheiten leiden – aber immer weniger Ärzte, die sie versorgen können. In den nächsten fünf Jahren können nach Schätzungen der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg 500 Praxen im Südwesten nicht nachbesetzt werden, wenn der Arzt aufhört. Die Assistentinnen sollen die Ärzte unterstützen.
In Baden-Württemberg sind 2255 von bundesweit 7155 Assistentinnen unterwegs, wie der Hausärzteverband zusammen mit der Krankenkasse AOK mitteilt. Fast drei Viertel (71 Prozent) der VERAHs sind demnach für Landarztpraxen unterwegs.
Schock ist medizinische Fachangestellte mit Zusatzausbildung und darf seither Hausbesuche machen, bei denen sie Blut abnimmt, Wunden versorgt und kontrolliert, ob die Patienten ihre Medikamente einnehmen. Sie fährt mit einem speziellen Auto zu den Hausbesuchen. 440 solcher VERAH-Mobile gibt es im Land bereits, wie die Projektpartner Hausärzteverband, die Krankenkasse AOK und die Mediverbund Praxisbedarf GmbH mitteilen. Das Förderprogramm wurde jüngst um drei Jahre verlängert.
Aycan Schock muss sich vor dem Hausbesuch die Gummihandschuhe anziehen, dann geht es los. “Ich habe heute einiges mitgebracht”, sagt sie und legt Rezepte vor Merkel auf die rote Esstisch-Decke mit weihnachtlichem Muster. Hier fühlt sich die Patientin wohl und hat gleich ihre dicke Lupe zur Hand, wenn sie etwas nicht lesen kann. Später muss sich Dora Merkel aufs Sofa legen. Schock vermisst die geschwollenen Füße und macht ein Foto davon. Und sie füllt drei Röhrchen mit Blut der Patientin.
“Das muss ja nicht der Arzt machen”, sagt Schock. Sie sammelt Informationen, die sie später mit ihrem Chef, dem Hausarzt Johannes Buderer, bespricht. Diagnosen stellt weiterhin nur er.
Buderer ist froh, dass ihm seine Mitarbeiterin etwa fünf Hausbesuche pro Woche abnimmt. Vorbehalte gegen die mobilen Helfer seien, wenn überhaupt vorhanden, unbegründet. Solche Assistenten nähmen Ärzten keine Arbeit weg, im Gegenteil, sie würden immer wichtiger. Bietigheim leidet unter relativ starkem Hausärztemangel. Zuletzt hätten in der Stadt zwei Ärzte ohne Nachfolger aufgehört, sagt Buderer. Er hat schon in seiner Praxis mehr als genug zu tun.
Auch der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung im Land, Kai Sonntag, sagt angesichts von Ärztemangel und einer älter werdenden Bevölkerung: “Es muss darüber nachgedacht werden, wie die Ressource Arzt sinnvoll eingesetzt wird.” VERAHs könnten durch ihre Zusatzausbildung einfache, bislang ärztliche Aufgaben übernehmen.
Aycan Schock macht die meisten ihrer Hausbesuche an einem Nachmittag in der Woche und arbeitet sonst in der Praxis von Buderer als medizinische Fachangestellte. Durch die direkte Anbindung der VERAHS an die Hausarztpraxen gehe keine Information verloren, sagt ein Sprecher des Hausärzteverbandes Baden-Württemberg. 1455 Praxen im Land haben demnach eine oder mehrere VERAHs.
Bundesweit stehen nach Angaben des Sprechers der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg 132 Millionen Euro bei den Krankenkassen für die Vergütung von VERAHs zur Verfügung. Der Sprecher sagt: “Der Topf wird aber nicht ausgeschöpft, weil die Abrechnungsmodalitäten zu kompliziert sind.”
Merkel ist bei den Terminen in der eigenen Wohnung gut aufgelegt. Aycan Schock lacht über ihre flotten Sprüche. Sie nimmt sich bewusst die Zeit, um sich mit den Patienten zu unterhalten und zum Beispiel rauszuhören, wo es gerade ziept, um möglichst früh einzugreifen. Den Weg zur Praxis nähmen viele Patienten erst bei hohem Leidensdruck auf sich. Schock sagt: “Bis sie in der Praxis auftauchen, haben sie manchmal schon fünf Krankheiten.”
Text und Foto: dpa /fw