Wissenschaftler der Universität Leipzig haben nach fünf Jahren intensiver Forschungsarbeit die Herkunft des menschlichen Nervensystems ergründet. Damit lösen sie eine Jahrzehnte alte Frage: Wurde unser Nervensystem und das Strickleiternervensystem von Insekten und Spinnen zweimal erfunden? Oder haben beide Systeme einen gemeinsamen Ursprung?
Fast alle Tiere der Erde lassen sich einer von zwei Gruppen zuordnen: Entweder zählen sie zu den Rückenmarktieren wie Säugetiere oder Fische, auch Deuterostomia genannt. Sie verfügen über ein röhrenförmiges Nervensystem mit einem Zentralkanal im Rückenmark. Oder sie gehören zur Gruppe der Bauchmarktiere wie Insekten, Schnecken oder Ringelwürmer, den Protostomia. Viele segmentierte Vertreter dieser beiden Gruppen sind durch ein Strickleiternervensystem gekennzeichnet. Beide Nervensysteme unterscheiden sich in ihrem Aufbau, was wiederum vermuten lässt, dass sie sich unabhängig voneinander entwickelt haben.
"Diese Frage treibt die Biologen schon seit vielen Jahrzehnten um. Vor etwa 30 Jahren hatte ich in einem Buch einen Hinweis darauf gefunden, dass bei manchen Würmern ein Teil des Nervensystems dem des Menschen sehr ähnlich sieht", erzählt Prof. Dr. Andreas Reichenbach, der bis 2015 Professor für Neurophysiologie am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Medizinischen Fakultät war. Von da an ließ ihn diese Frage nicht mehr los. "Ich wollte nachweisen, dass beide Nervensysteme einen gemeinsamen Ursprung haben. Das wurde möglich, da Kollegen vom Institut für Biologie nicht nur ihre Expertise, sondern auch geeignetes Untersuchungsmaterial und viele gute Ideen eingebracht haben. Zusammen mit Dr. Christoph Bleidorn und Dr. Conrad Helm haben wir verschiedene Tiere beider Gruppen über Jahre hinweg untersucht."
Durch die Einfärbung von Zellen mit Antikörpern gegen spezifische Proteine und die Analyse mit dem Elektronenmikroskop konnte das Wissenschaftlerteam die Zelltypen sichtbar machen, die ein Nervensystem bilden: Zunächst nehmen Sinneszellen die Reize aus der Umwelt auf. Große Ganglienzellen leiten diese Informationen von den Sinneszellen im Körper weiter - etwa an Muskelzellen - um eine Bewegung hervorzurufen. Als "Stützgerüst" für die Nervenzellen dienen Radialgliazellen. "Diese Zellen kümmern sich im Prinzip um die beiden Nervenzelltypen. Sie stellen ihre Funktion und Versorgung sicher", erläutert Prof. Dr. Andreas Reichenbach.
Und genau diese Radialgliazellen haben die Leipziger Wissenschaftler nun im Nervensystem sowohl von Rücken- als auch von Bauchmarktieren gefunden. "Die Zellen sehen zwar bei hochspezialisierten Vertretern beider Gruppen etwas anders aus. Sie haben sich im Laufe der Evolution verändert und angepasst. Aber ursprünglich waren es die gleichen Zellen. Das Nervensystem wurde also nur einmal erfunden", resümiert Reichenbach. Der Wissenschaftler geht davon aus, dass sich das Nervensystem schon beim letzten gemeinsamen Vorfahren von Deuterostomia und Protostomia entwickelte. Damit konnten die Forscher ein jahrzehntealtes und in der Fachwelt kontrovers diskutiertes Problem lösen. Nun kann diese Erkenntnis künftig Einzug in die zoologischen Lehrbücher halten.