Die nun schon vierte esanum-Expertenrunde "COVID-19 in der Praxis" stand unter dem Motto: "So wenden Sie Schaden von Ihren Onko- & Gyn-Patientinnen ab". Eingeladen waren Dr. med. Susanne Hampel, Fachärztin für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Berlin und Prof. Dr. med. Dr. h.c. Jalid Sehouli, Direktor der Charité für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie. Die 4. Expertenrunde gab wie schon die Male zuvor ein Update aus einem breiten Spektrum der Medizin und beantwortete viele Chat-Fragen aus dem Online-Auditorium.
Zu Beginn stellte sich die teilnehmende Community interaktiv vor. Demnach waren 80% der Zugeschalteten niedergelassene ÄrztInnen, davon über die Hälfte HausärztInnen. Befragt, ob sie den Eindruck hätten, onkologische Patientinnen kämen bei Prävention, Therapie und Nachsorge derzeit zu kurz, sagten rund 60% ja, das sei ihre Wahrnehmung. Nur 14% meinten, im Großen und Ganzen laufe alles wie immer. Unter den gynäkologischen Patientinnen sind besonders die Schwangeren stark verunsichert durch offene Fragen zu COVID-19 in der Schwangerschaft, so beobachten die teilnehmenden Ärztinnen. Auf die dritte Frage an die ZuschauerInnen, wie sie dem kommenden Wiedereinstieg in den normalen Praxisalltag entgegensehen, sagten 60%: Ich bin nicht sicher, was noch alles auf uns zukommt und bewerte die Situation von Tag zu Tag.
Die Moderatorin der Online-Veranstaltung, die Berliner Hausärztin Dr. Petra Sandow, verglich zur Einstimmung die aktuellen COVID-19-Zahlen mit denen vom Tag der ersten Expertenrunde am 1. April 2020. Damals wurden 71.808 Fälle gemeldet, sowie 775 Todesfälle, heute, sechs Wochen später, sind es 170.508 Fälle und 7.533 Tote. Die Case fatility rate ist damit von 1,1% auf 4,4% gestiegen.
In einem Live-Meeting mit Prof. Edward Tenner, Direktor der North Western Medicine Chicago, gab es aktuelle Einblicke in die US-amerikanische Situation. Auch dort, so erklärte der Chirurg mit Schwerpunkt gynäkologische Onkologie, gibt es starke regionale Unterschiede der Gesamtsituation, viele gynäkologische Praxen hätten geschlossen, sodass Patientinnen entweder nicht betreut sind oder in die Kliniken kommen.
Zum brennenden Thema Medikamentenknappheit kam dann der Medizinjournalist und Arzt Dr. Christoph Specht in einem Video zu Wort. Sein Fazit: Damit werden wir noch länger zu tun haben! Lieferengpässe waren schon vor Corona-Zeiten ein Problem, die Liste der knappen Arzneimittel sei aktuell aber nicht wesentlich länger geworden. Neu ist, dass die Apotheken nun ohne weiteres adäquate Mittel abgeben dürften. Dazu erklärte Prof. Sehouli, er habe bei allen Schwierigkeiten noch nicht erlebt, dass eine Therapie nicht weitergeführt werden konnte, weil Medikamente fehlten. Allerdings seien viele Patientinnen verunsichert, besonders was Hormonersatztherapien und Kontrazeptiva betrifft, ergänzte Dr. Hampel aus ihrer Praxis, sie habe deswegen einen höheren Beratungs- und Erklärungsaufwand.
Zu dieser Frage sprach Prof. Sehouli in seinem Statement. Die "Charité-Philosophie" geht von einem Anspruch aller Patientinnen auf eine "optimale und personalisierte Krebstherapie" aus. Dazu gehören beispielsweise die Regeln in der Krebstherapie-Ambulanz mit 2-Meter-Abstands-Regel, Mundschutz- sowie Behelfsmasken für Patientinnen und Begleitpersonen. Zu den Neuerungen gehören auch Lunchpakete für Patientinnen und Videosprechstunden. Laborentnahmen werden auf ein Mindestmaß reduziert. Wir müssen jetzt lernen, erklärte der Experte, welche Operationen tatsächlich zu verschieben seien – eher frühe oder fortgeschrittene Karzinome? Empfehlungen hierzu sind unbedingt kritisch zu hinterfragen und nicht in Stein gemeißelt.
Ein Drittel der Patientinnen sagen in einer Umfrage der Charité, ihre Angst vor Ansteckung sei größer als die vor dem Fortschreiten der Erkrankung. Fest steht: Krebspatientinnen gehören zu den Risikopatienten. Leider kommen sie aus Angst vor einer Infektion oft verspätet in die Ambulanzen. Zu einer Zuschauerfrage zum Ovarialkarzinom, das oft sehr spät erkannt werde, erklärte Prof. Sehouli, diese Diagnostik sei meist ohnehin eine Odyssee für die Patientinnen, jetzt erst recht. Beim Thema Immunsuppression durch Chemotherapie ging es um den Punkt: Bedeutet sie ein erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf im Falle einer COVID-19-Erkrankung? Das hänge auch von den anderen Faktoren wie Alter und weiteren Komorbiditäten ab. Auf jeden Fall handele es sich um fragile Patientinnen. Das heißt aber nicht, dass sie keine Krebstherapie bekommen sollten. Eher könne er sich eine Prä-Rehabilitation vorstellen, um alle Chancen zu nutzen.
Dr. Susanne Hampel brachte Ihre Erfahrungen und Beobachtungen aus der gynäkologischen Praxis ein. Die Grundversorgung sei in den Bundesländern unterschiedlich geregelt, erklärte sie. So werde in Bayern die Vorsorge ausgesetzt, in Berlin ist sie den Praxen freigestellt. Ein Schwerpunkt ist natürlich die Schwangerenbetreuung. Schwangere seien besonders verunsichert, sie seien aber im Gegensatz zu Influenza keine besondere Risikogruppe für COVID-19. Im Falle der Infektion seien ihre Verläufe mild bis mittelschwer. Vorbeugende Maßnahmen sind: Kontaktverbot zum Selbstschutz, Abstandsgebot, Mundschutz, frische Luft, Vorsorgetermine beim Arzt. Zur Geburt gehört die Kokonstrategie: Im Kreißsaal nur eine gesunde, vertraute Begleitperson, keine Unterbringung im Familienzimmer, keine Besuche in der Wochenstation. Derzeit kommt es daher zu mehr ambulanten Entbindungen. Im Infektionsfall wird der Säugling von der Mutter getrennt untergebracht. Die DGGG empfiehlt: Keine Kaiserschnitte wegen einer COVID-19-Infektion. Stillen sei kein Problem, so die Expertin. Es gibt keinen Nachweis für einen Virus-Transfer in die Muttermilch.
Die große Angst der Schwangeren, ihr Baby könnte sich anstecken, ist nach bisherigen Kenntnissen nicht begründet. Laut einer Studie gibt es keinen Beweis für einen Übertritt des Virus ins Plazentagewebe oder ins Vaginalsekret. Es gibt erst einen einzigen aus China berichteten Fall, in dem sich ein Säugling 30 Stunden nach der Geburt angesteckt habe.
Wichtig ist jetzt die ausführliche Beratung und Aufklärung der Schwangeren, die Beratung mit KollegInnennnen, KlinikärztInnen und VertretungsärztInnen, sowie eine besondere Überwachung bei grippeähnlichen Symptomen. COVID-19-Patientinnen können unter besonderen Hygienebedingungen in der Frauenarztpraxis betreut werden, so das Fazit von Dr. Hampel. Sie kümmere sich in der Praxis besonders auch um den Impfstatus der Schwangeren und ihrer Partner. Die STIKO empfiehlt ausdrücklich die Pertussisimpfung von Schwangeren.
Zu diesem Stichwort ging abschließend Dr. Petra Sandow auf die besonderen Bedingungen und Bedürfnisse der Hausarztpraxen ein – von geänderten Testmodalitäten bis zu aktuellen Abrechnungsmöglichkeiten, beispielsweise den Hygienezuschlag für PrivatpatientInnen, sowie den aktuellen Schutzschirm für Niedergelassene - durch den 85% des Gesamthonorars garantiert sind. Und eine erfreuliche Botschaft zuletzt: hatten am Tag der ersten esanum-Expertenrunde am 1.4.2020 noch 120 Berliner Praxen Corona-bedingt geschlossen, ist es jetzt nur noch eine einzige, sodass der Andrang von NeupatientInnen nachgelassen hat.
Alle drei Fachleute waren sich einig: aus der neuen Situation müsse künftig eine neue Kommunikationsstruktur samt Notfallmanagement etabliert werden: Praxen, Ambulanzen, Kliniken brauchen eine enge Verständigung und Abstimmung. Prof. Sehouli plädierte für eine Kommunikationspauschale zwischen den Berufsgruppen.
Im abschließenden Voting gaben 81% der Teilnehmenden der online-Veranstaltung gute Noten, bewerteten sie als "sehr informativ und nützlich". Fortsetzung folgt demnach in 14 Tagen.
Die Expertenrunde "COVID-19 in der Praxis" mit den Fachbereichen Gynäkologie und Onkologie vom 13.Mai 2020 ist unter diesem Link als Video On-Demand abrufbar. Das Programm für die nächste CME-Expertenrunde der Reihe "COVID-19 in der Praxis" mit den Fachbereichen Rheumatologie