Dr. Al-Tinawi arbeitete 40 Jahre als leitender Oberarzt der Allgemeinchirurgie des St. Franziskus Hospitals in Bielefeld. Bereits während seiner Zeit im Krankenhaus war er immer wieder Vertretungsarzt für niedergelassene Kollegen im Umkreis und unterstützte sie bei ihrer Sprechstunde und ambulanten Operationen.
esanum: Dr. Al-Tinawi, Sie arbeiten nicht nur in Krankenhäusern, sondern vertreten auch Ärzte im niedergelassenen Bereich. Was sind die größten Unterschiede zwischen der Arbeit in Arztpraxen und der in Krankenhäusern?
Al-Tinawi: Im Krankenhaus arbeitet man als Angestellter mit einem Vorgesetzten. Es gibt einen Geschäftsführer, Kollegen und Personal, wie in einer großen Gesellschaft. In der Praxis ist man sein eigener Chef, kann alles selbst organisieren und die Arbeit der anderen festlegen. Die Atmosphäre ist oft wie in einer kleinen Familie, auch der Kontakt zu den Patienten ist intensiver. Verantwortung trägt man aber immer, egal, ob im Krankenhaus oder in der Praxis.
esanum: Viele Ihrer Kollegen kritisieren die Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern und berichten von zu vielen Arbeitsstunden bei zu wenig Pausen und Bezahlung. Stimmt das Ihrer Meinung nach?
Al-Tinawi: Selbstverständlich hat man im Krankenhaus viel Arbeit und manchmal fallen auch Überstunden an. Pausen sind fast immer möglich. Die Größe des Krankenhauses, und die Anzahl der Kollegen sind allerdings die bestimmenden Faktoren. Der Arbeitsanfall in einer Praxis ist ebenfalls hoch, allerdings sind die Abläufe besser zu strukturieren und der Arbeitsalltag eher planbar.
esanum: Sie blicken auf eine jahrzehntelange Erfahrung im Krankenhausbereich zurück: Hat es Sie je gereizt, sich selbstständig zu machen?
Al-Tinawi: Nein, ich war im Krankenhaus immer zufrieden. Ich konnte immer eigenverantwortlich arbeiten und entscheiden. Überstunden und Nachtdienste gehören für mich selbstverständlich zum Arbeitsalltag dazu.
esanum: In den letzten Jahren gab es viele gesundheitspolitische Veränderungen im Krankenhaussektor, unter anderem die Umstellung auf die Abrechnung mit Fallpauschalen statt Tagessätzen. Welche Auswirkungen hatte das auf Ihren persönlichen Alltag im Krankenhaus?
Al-Tinawi: Die neuen Veränderungen halte ich zum großen Teil für richtig. Für meinen persönlichen Arbeitsalltag hatten diese Neuerungen kaum Auswirkungen.
esanum: Sie selber sind in Syrien zur Schule gegangen, haben in Spanien studiert und arbeiten nun seit über vierzig Jahren in deutschen Krankenhäusern. Viele Kollegen mit Migrationshintergrund berichten von erschwerten Aufstiegschancen im Beruf. Teilen Sie ihre Meinung?
Al-Tinawi: Nein, wenn man gut und verantwortungsvoll arbeitet, noch dazu gut Deutsch spricht, dann hat man ausreichend Chancen aufzusteigen. Viele leitende Oberärzte sind Ausländer. Meiner Meinung nach sind folgende Eigenschaften wichtig: Fleiß, Engagement, Verantwortung und ein Herz für die Patienten.
esanum: Was würden Sie jungen Ärzten raten, die im Fachbereich Chirurgie/Unfallchirurgie am Anfang ihrer Karriere im Krankenhaus stehen?
Al-Tinawi: In der Generation junger Ärzte hat sich, meines Erachtens nach, viel geändert. Leider legen die jungen Ärzte sehr viel Wert auf Freizeit, das heißt: Zuerst kommt ihr Privatleben, dann der Beruf. Letztendlich haben sie einen langen Weg vor sich, ein verantwortungsbewusster Arzt und nach gelungener Weiterbildung ein Facharzt zu werden. Ohne die entsprechende Einstellung und Hinwendung auf den Patienten, werden diese Ziele schwer zu erreichen sein.
Vom 23.bis 26. Oktober findet in Berlin der Deutsche Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie 2018 statt. Aktuelle Berichterstattung vom DKOU 2018 finden Sie in den esanum Kongress-Highlights.