Vergrößerungen und Fehlfunktionen der Schilddrüse zählen in Deutschland zu den Volkskrankheiten – Tendenz steigend. Fast ein Viertel aller Männer und 35 bis 45 Prozent aller Frauen sind davon betroffen, schätzen Ärzte.
37 Prozent haben einen Knoten in der Schilddrüse. Und 20 Prozent der Frauen eine Autoimmunthyreoiditis. Aber die Unwissenheit - auch unter manchen Ärzten - über Ursachen und Therapien ist immer noch hoch. Ein Gespräch mit dem Schilddrüsenspezialisten Prof. Dr. Roland Gärtner, München
esanum: Prof. Gärtner, Sie beschäftigten sich bereits in Ihrer Dissertation vor vier Jahrzehnten mit der Schilddrüse und sind dem Thema treu geblieben. Was ist so faszinierend an der Schilddrüse?
Gärtner: Es ist ein Organ, das essentielle Hormone produziert, ohne die wir nicht leben können. In einer Vorlesung habe ich als Student gehört, dass das TSH sowohl das Wachstum als auch die Funktion der Schilddrüse stimuliert. Und ich dachte mir, das kann nicht sein, ein Hormon kann nicht beides. Und dann habe ich den Professor in der Vorlesung gefragt, wie das sein kann. Er hat er kurz nachgedacht und gesagt: Das könne er auch nicht erklären, aber ich solle das doch herausfinden.
esanum: Und schon hatten Sie Ihre Aufgabe gefunden – was hat sich herausgestellt?
Gärtner: Ich habe herausgefunden, dass es wirklich nicht stimmt. Das TSH stimuliert die Funktion, aber nicht direkt das Wachstum. Direkt stimuliert es nur die Schilddrüsenhormonproduktion. Und nur dann, wenn nicht genug Jod vorhanden ist, gibt es einen Switch in der Antwortstimulation der Schilddrüse, dann wird der Wachstumsfaktor IGF 1 von den Schilddrüsenzellen produziert. Und das stimuliert dann autokrin das Wachstum der Schilddrüse. Dieser Vorgang ist im Wesentlichen davon abhängig, wie viel Jod in der Schilddrüsenzelle vorhanden ist. Also wenn genug Jod da ist, wird kein IGF 1 produziert.
esanum: Sie kritisierten immer wieder die eingeübte Verschreibungspraxis von Schilddrüsenhormonen. Was genau passte Ihnen nicht?
Gärtner: Man hat lange Zeit Menschen mit einer vergrößerten Schilddrüse oder einem Knoten in der Schilddrüse mit Schilddrüsenhormonen behandelt, basierend auf der alten Lehrmeinung. Das ist völlig unsinnig. Denn wenn man Schilddrüsenhormone gibt, wird weniger Jod in die Schilddrüse aufgenommen. Das ist also eher kontraproduktiv. Als ich anfing, gab es etwa 100 Publikationen, die den Erfolg einer Struma-Therapie am TSH-Wert festgemacht haben und nicht an der Schilddrüsengröße oder am Volumen der Knoten. Der Sinn einer medikamentösen Therapie wäre ja der Nachweis, dass die Knoten oder die Schilddrüse kleiner werden. Man hat den Therapieerfolg also an einem Parameter gemessen, von dem man dachte, er sei effektiv, ohne es wirklich zu hinterfragen.
esanum: Ist der Irrtum inzwischen abgestellt?
Gärtner: Ich habe den ersten deutschsprachigen Artikel dazu 1996 geschrieben, zwischenzeitlich gibt es viele bestätigende Publikationen. Aber zehn Prozent der Bevölkerung nehmen Schilddrüsenhormone, ein Großteil davon wegen Knoten. Es wird auch immer noch falsch gelehrt. Studenten lernen, dass das TSH beides macht – Wachstum und Stimulation der Hormonproduktion. Darum geben Kollegen oft immer noch Hormone und nicht Jod. Dabei wäre Jod das Logische, weil dieser Mangel für die meisten Schilddrüsenprobleme verantwortlich ist.
esanum: Jodmangel ist aber schwer feststellbar?
Gärtner: Das Jod, das wir mit der Nahrung aufnehmen, geht innerhalb von wenigen Minuten in die Schilddrüse, bzw. wird wieder ausgeschieden. Deswegen misst man bei einer Population von 1000 oder 2000 Menschen die Jodausscheidung im Urin, dann kann man das mitteln und sagen: das entspricht der Jodzufuhr einer Bevölkerung. Für das Individuum ist das aber nicht feststellbar, weil es beispielsweise davon abhängt, wie viel getrunken wurde, also wie verdünnt der Urin ist und ob vorher Fisch und Sushi gegessen wurde, also jodreiche Nahrung oder Gemüse, also jodarmes Essen.
Aus neuen epidemiologischen Studien wissen wir, dass die mittlere Jodaufnahme in Deutschland zwischen 100 bis 120 Mikrogramm pro Tag liegt. Die Schwangere braucht aber mindestens 250 Mikrogramm – sie muss also ca. 150-200 µg Jod pro Tag zuführen um die gesunde Entwicklung des Kindes zu gewährleisten. Das weiß man schon lange, aber es dauert seine Zeit, bis so etwas bei allgemein bekannt und umgesetzt wird.
esanum: Erklärt der Jodmangel allein die vielen Schilddrüsenerkrankungen?
Gärtner: Nein, hinzu kommt Selenmangel, wie wir mittlerweile wissen. Die Schilddrüse produziert ständig Wasserstoffperoxid, damit das Jodid, das wir aufnehmen, zum Jod plus oxidiert werden kann. Und das bindet dann an am Tyrosylrest des Thyreoglobulin, so entsteht das Schilddrüsenhormon. Das überschüssige Wasserstoffperoxid muss durch Selenoenzyme abgebaut werden, um keine Zellschädigung zu verursachen. Insbesondere bei Jodmangel wird noch mehr Wasserstoffperoxid produziert, da die Schilddrüse mehr stimuliert wird. So erklärt der kombinierte Jod- und Selenmangel die vielen Schilddrüsenerkrankungen
esanum: Haben wir in der Regel genügend Selen im Körper?
Gärtner: Es gibt europaweit einen verbreiteten Selenmangel. Selen nimmt der Mensch vorwiegend über pflanzliche Nahrung zu sich. Weil Selen durch unsere intensive Landwirtschaft – auch durch sauren Regen - nicht mehr genügend im Boden vorhanden ist, enthalten Getreide und Gemüse nicht genug Selen.
esanum: Was tut man dagegen?
Gärtner: Finnland hat seit 1984 die Landwirte verpflichtet, Selen in den Boden zurück zu bringen – als einziges europäisches Land. Das ist ein guter Weg. Die Politik könnte auch bei uns dafür sorgen. Die Bauern sind da ja viel klüger, die geben Hühnern und Schweinen Selen, weil die dann gesünder sind und mehr Nachkommen haben. Auch in vielen Fischen, in Algen, in Paranüssen ist viel Selen enthalten. Ein Beispiel, wie die Nahrung in dem Zusammenhang wirkt, ist Japan. Dort haben die Menschen keine Knoten in der Schilddrüse, sie essen Algen und viel Fisch.
esanum: Schilddrüsenhormone - wann sind sie tatsächlich sinnvoll?
Gärtner: Wenn man eine Schilddrüsenunterfunktion hat und wenn die Schilddrüse entfernt wurde. Von den 20 Prozent der Frauen, die Antikörper gegen die Schilddrüse haben, bekommen etwa 3 bis 4 Prozent pro Jahr eine Unterfunktion. Und dann brauchen auch sie Schilddrüsenhormone.
esanum: Woher kommt die immer noch verbreitete Unsicherheit bei manchen Medizinerkollegen bei der Therapie der Schilddrüse?
Gärtner: Man muss sich damit auseinander setzen. Aber wie viel Jod beispielsweise im Salz enthalten ist, das wissen viele Hausärzte nicht. Sie müssen sich mit so vielen verschiedenen Fällen auseinandersetzen – von Grippe bis Durchfall – da ist die Schilddrüse eben nicht akut. Daran stirbt man auch nicht.
esanum: Und was ist mit Schilddrüsenkrebs?
Gärtner: Das ist der ungefährlichste Krebs überhaupt. 99 Prozent kann man heilen. 35 Prozent der Erwachsenen haben einen kleinen Schilddrüsenkrebs, der ihnen nie etwas tut. Oft wird er zufällig bei einer Operation wegen gutartiger Knoten gefunden. Man sollte Knoten in der Schilddrüse abklären durch Ultraschall, eventuell Szintigraphie und in Frieden lassen, wenn kein Verdacht auf ein Karzinom besteht. Und alle zwei Jahre mal mit Ultraschall kontrollieren, ob neue Knoten entstanden sind.
esanum: Aber Schilddrüsenfehlfunktionen haben oft starke Auswirkungen auch auf andere Organe und auf die Psyche. Damit haben Ärzte ja ständig zu tun.
Gärtner: Stimmt. Deswegen wird auch teilweise übertrieben, was der Schilddrüse alles zugeschoben wird: zum Beispiel Müdigkeit, Haarausfall und Gewichtszunahme. Und das stimmt alles nicht. Da muss der Arzt an etwas anderes denken als an die Schilddrüse. Auch Druck im Hals sowie Schluckbeschwerden haben praktisch nie etwas mit der Schilddrüse zu tun. Aber ich sehe mindestens drei Leute am Tag mit einem Kloßgefühl im Hals, vom Hausarzt geschickt. Man muss nur in den Rachen schauen, wenn er gerötet ist und ab und zu ein Säuregefühl bestätigt wird, ist die Diagnose klar: Refluxpharyngitis. Mit der Schilddrüse hat das nichts zu tun. Aber leider stehen diese Symptome immer noch falsch in den Lehrbüchern.
esanum: Was muss für mehr Schilddrüsengesundheit passieren?
Gärtner: Der Jodmangel wird immer noch nicht ernst genug genommen und auch dem Selenmangel wird nicht ausreichend Beachtung geschenkt. Dazu muss die Politik aktiv werden und dafür sorgen, dass wir ausreichend Jod und Selen in der täglichen Nahrung haben. Also generell Jodsalz, wie in der Schweiz seit 1924 und Selen zurück auf das Feld wie in Finnland seit 1984. Was der einzelne tun kann: viel Meeresfrüchte einschließlich Algen, Paranüsse, die viel Selen enthalten und ausgewogene Ernährung.
Und die Ärzte sollten sich mal einen Moment Zeit nehmen und darüber nachdenken, was sie mit ihren Schilddrüsenpatienten machen: Ist es wirklich sinnvoll was ich tue?