“Grüß Gott!”, sagt Theresia Mair und plaudert drauf los, als wäre sie mit Beate Scheffler befreundet. Krankenschwester Scheffler ist Beraterin der Deutschen Stiftung Patientenschutz für Schwerstkranke, Pflegebedürftige und Sterbende und sitzt 600 Kilometer entfernt in Dortmund. Bei Theresia Mairs bayerischem Dialekt braucht man im Kohlenpott etwas Zeit zum Eingewöhnen. Dann geht es. Die Rentnerin spricht klar und deutlich.
Beate Scheffler aus dem Beraterteam der Patientenstiftung in Dortmund weiß, worum es geht. Theresia Mair (Name geändert) will ihre Vorsorgedokumente aktualisieren lassen. In der Vorsorgevollmacht ist eingetragen, dass ihr Patenkind als Bevollmächtigte wichtige Dinge für sie regeln darf, sollte sie einmal durch Krankheit geschäftsunfähig werden. Die Änderung ist Routinearbeit für die Beraterin. Es geht nur um eine Namensänderung. “Mein Patenkind hat wieder ihren Mädchennamen angenommen”, sagt die Rentnerin. Scheffler will ihr die geänderte Vorsorgevollmacht zum Unterschreiben zuschicken.
Im Hintergrund schwelt aber noch etwas anderes. Die Beraterin ist gespannt, was die 77-Jährige in München Neues über die Pflegekraft ihrer 92 Jahre alten Cousine berichten kann. Bei der sind Theresia Mair und ihr Bruder Bevollmächtigte. Bei der Cousine hat es Ärger gegeben. “Die Pflegekraft wollte die Vorsorgevollmacht bei Mairs Cousine ändern lassen und sich selbst als Bevollmächtigte einsetzen lassen”, sagt Scheffler zur Vorgeschichte. Das dürfe sie natürlich nicht.
Also fragt Beraterin Scheffler nach. “Was macht denn die Pflegekraft ihrer Cousine?” “Ach, die ist entlassen”, antwortet Theresia Mair trocken. Das Problem gelöst? Das Gespräch beendet? Nicht ganz. Es gibt bereits eine neue Pflegekraft. Die hat der Bruder von Theresia Mair eingestellt. Darf er. Er ist ja auch Bevollmächtigter seiner Cousine. Die neue Pflegekraft will aber nicht so, wie Theresia Mair das gerne hätte. Die Pflegerin will nicht, dass sie zu Besuch kommt. Beate Scheffler verspricht, den Stiftungsanwalt einzuschalten, damit die Besuche wieder klappen.
Im Zimmer gegenüber sitzt Beraterin Birgit Keim, gelernte Krankenschwester mit Hospizerfahrung. Sie hat ihrem “Patienten” einen Rückruf angekündigt. Der Essener hat schwere Lungenprobleme und versucht, auf die Warteliste für eine Transplantation zu kommen. Weil er Schwierigkeiten mit den Ärzten hat, ist er Mitglied der Stiftung Patientenschutz geworden. Er lässt sich helfen, sein Anliegen bei den Ärzten durchzubekommen.
Der Maler ist gut gelaunt. “Phase eins und zwei sind abgeschlossen. Jetzt werde ich gelistet”, spricht er in Essen ins Telefon und unterdrückt ein Husten. Der 53-Jährige war bei einer Besprechung seiner behandelnden Ärzte. “Die haben komisch geguckt, als ich gesagt habe, dass ich beim Patientenschutz bin. Ich habe das Gefühl, dass dann alles besser gelaufen ist.” Dafür hat er im Gegenzug seinen im Internet niedergeschriebenen Unmut über seine medizinische Versorgung gelöscht.
Der Maler wartet schon Jahre auf die Listung. Zuerst hatten sie ihm die Eignung abgesprochen, weil er Therapien sausen ließ. Beim Rauchen hat es wohl auch Rückfälle gegeben. Jetzt ist er ernsthaft dabei, mit dem Rauchen aufzuhören. Außerdem ließ er sich in Mönchengladbach auf Anraten der Ärzte sechs Ventile in die Lunge einsetzen. Die sollten aber für eine Transplantation wieder heraus. Bei Dreien ging es problemlos. Drei bleiben erstmal noch drin.
Die Freude, bald auf die Warteliste gesetzt zu werden, ist am Telefon zu hören. Den Jubel unterdrückt er aber. “Erst wenn ich von Eurotransplant in Holland die Karte bekomme, weiß ich, dass ich auf der Liste bin.”
Im Überschwang fragt er Birgit Keim, ob ihm die Stiftung nicht ein Mofaauto vorfinanzieren kann. Die Beraterin muss ihn bremsen. Beraterin und Patient verabschieden sich. Wenn das Listing kommt, wollen beide wieder telefonieren.
Der Maler aus Essen hatte sich Ende August 2014 erstmals am Patientenschutztelefon der Stiftung gemeldet. Nach kostenlosen Erstberatungen trat er sechs Wochen später dem Förderverein bei. Als Mitglied hat er jetzt Anspruch auf Intensivberatungen.
Die Gesamtzahl der Intensivberatungen hat im vergangenen Jahr zugenommen. 2500 Fälle waren es an den drei Standorten Dortmund, München und Berlin. Insgesamt hatten 28 200 Hilfesuchende die Beratungsnummer gewählt. Die Hauptthemen sind Streitereien mit Ärzten, Krankenhäusern, Pflegeheimen und Krankenkassen, Fragen zu Pflegestufen oder Missständen in der Pflege.
Jeder Dritte fragt nach Informationen zu Patientenverfügungen. “Viele Menschen möchten verbindlich regeln, wie sie im Falle einer schweren Krankheit behandelt werden wollen – und wie nicht”, sagt Stiftungschef Eugen Brysch.
Helga und Franz Müller aus Unna sind so ein Fall. Das Ehepaar kommt zur persönlichen Beratung in die moderne Büroetage im Neubaugebiet Stadtkrone Ost in Dortmund. Früher waren hier die Briten stationiert. Jetzt sitzen die Müllers im ersten Stock in einem bequemen Sofa. Pflegeberaterin Andrea Staniszewski erklärt dem Paar, was alles in die Patientenverfügung eingetragen werden kann. Sollen Opiate bei schwersten Erkrankungen eingesetzt werden, zum Beispiel bei einer Lungenerkrankung mit Atemnot? Der Patient soll ja keine Ängste und Schmerzen durchstehen müssen. Soll bis zum Ende künstlich ernährt werden? Soll es Bevollmächtigte geben, wenn man selbst nichts mehr erklären kann? Was muss in die Verfügung geschrieben werden, damit gegebenenfalls Organspende möglich bleibt? Andrea Staniszewski lässt dem Paar Zeit zum Entscheiden. Sie sollen alles noch einmal nachlesen und überdenken.
Zwanzig Meter weiter wartet Jurist Hanno Siekmann in seinem Minibüro auf einen Anruf aus Baden-Württemberg. Eine Nachbesprechung steht an. Ein früherer Fachautor, inzwischen in den Siebzigern, leidet an Herzschwäche. Sein Antrag auf Pflegestufe zwei war abgelehnt worden. “Wir sind auch der Meinung, dass er zwei haben mus”», sagt Siekmann. “Wir haben Widerspruch eingelegt.” Nach der erneuten Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen sei dann Stufe II zum 1. Oktober 2014 bewilligt worden.
Der 75-Jährige lässt sich zu Hause pflegen. “Das Pflegegeld funktioniert”, sagt er zu Siekmann. Auch die finanzielle Erhöhung zum Jahreswechsel wird gezahlt. Aber er hat noch mehr Anliegen. Es geht um die Wege zur Therapie. “Der Kardiologe hat gesagt, wenn der Blutdruck zu niedrig ist, soll ich nicht Auto fahren. Dann soll die Pflegerin fahren.” Die Pflegerin kann aber nicht immer. Der Fall ist kompliziert. Es geht um den Anspruch, die Fahrten zur Therapie ersetzt zu bekommen. Die Kasse meint, solche Fahrten seien mit dem Pflegegeld abgegolten. Siekmann will das prüfen.
Viele Anrufer suchen ganz andere Hilfe. “Manchmal sind es Menschen, denen sonst keiner mehr zuhört. Da ist man schon eher psychologischer Berater”, sagt Siekmann.
Wenn der Lebensmut sinkt oder Angehörige in Schuldgefühlen versinken, ist oft Elke Simon letzte Instanz bei den Patientenschützern. Sie ist Beraterin und Seelsorgerin. “Hier landen Menschen, die Probleme haben, die sich nicht so leicht lösen lassen.” Bei ihr fragen Menschen sogar, wo sie Sterbehilfe bekommen können. “Sie wollen sich nicht vor einen Zug werfen oder sich vom Hochhaus stürzen, um nicht noch andere Menschen damit zu belasten.”
“Hier geht es darum, den Kern herauszufinden. Der liegt oft sehr tief”, sagt Elke Simon. “Die Minderheit kommt zum Schluss, sterben zu wollen, weil sie einfach keinen Sinn mehr im Leben sieht oder weil sie eine besondere Krankheit hat.” Bei 90 Prozent liegt der Grund im Alleinsein. Simon spricht von einer Frau, deren Mann an Hautkrebs gestorben ist. “Sie wollte danach auch sterben. Sie hat aber eigentlich nach einer Aufgabe im Leben gesucht. Die Frau aus Baden-Württemberg wollte schon, dass die Stiftung ihr Haus übernimmt, damit sie dann als Beraterin für die Stiftung arbeiten könne, sozusagen in einer Nebenstelle.”
Text und Foto: dpa /fw