esanum: Stimmt es, dass mehr Patienten nach Herzstillstand überleben könnten – und das bei einer besseren Lebensqualität, wenn man Sie optimal behandeln würde?
Dr. Storm: Aus meiner Sicht kann man das so sagen.
esanum: Was müsste sich bessern?
Dr. Storm: Zuerst einmal muss es mehr Menschen geben, die eine schnelle und beherzte Herzdruckmassage beginnen, noch ehe der Notarzt eintrifft. Das ist sehr einfach zu lernen, aber wir tun das in der Regel erst mit 18, wenn wir den Führerschein machen. Vom Deutschen Reanimationsregister wissen wir, dass die Ersthelferrate im Durchschnitt nur 15 Prozent beträgt. In Schweden beträgt die Rate 75 Prozent. Da haben die Schulkinder seit 20 Jahren regelmäßig Training in Wiederbelebung.
esanum: Das heißt, dass bei uns 85 Prozent der Menschen hilflos dabei stehen, wenn neben ihnen jemand tot umfällt – wie soll sich das ändern?
Dr. Storm: Ja. Das German Resuscitation Council hat beschlossen, das Gesamt-Outcome nach Herzstillstand zu verbessern und gemeinsam mit der Bundesarbeitsgemeinschaft Erste Hilfe der Kultusministerkonferenz empfohlen, Schulkinder ab 8 Jahren in Wiederbelebung zu unterrichten. Dafür wurde ein mehrstufiges Ausbildungskonzept entwickelt. Einige Bundesländer machen das schon. In Berlin wollen wir dabei helfen, diesen Unterricht einzuführen. Patienten, die schnell Hilfe bekommen, haben grundsätzlich bessere Chancen. Die zweite kritische Phase beginnt in der Post-Reanimationsphase in der Klinik. Da ist es aus unserer Sicht notwendig, dass ein gewisser Standard der Behandlung nach Herzstillstand erfüllt wird.
esanum: Was gehört zu diesem wünschenswerten Standard?
Dr. Storm: Zum Beispiel das TTM – Target Temperatur Management. Wir kühlen die Patienten nach Reanimation gezielt und kontrolliert auf 33°, um eventuelle Hirnschäden nach dem Sauerstoffmangel zu minimieren. Damit haben wir sehr gute Erfahrungen gemacht. Patienten haben ein besseres neurologisches Outcome nach Herzstillstand, wenn sie so eine Kühlbehandlung bekommen.
esanum: Können Sie das in Zahlen belegen?
Dr. Storm: Wir haben eine sehr große Datenbank – hier an der Charité wurden bisher 1000 Patienten so behandelt. Und wir haben ein historisches Kontrollkollektiv, Patienten die bis 2005 ohne Kühlung behandelt wurden. So dass wir genau vergleichen können: was hat sich bei uns hier mit der Kühlung verändert?
esanum: Und?
Dr. Storm: Von der Hälfte der Patienten, die nach einem Herzstillstand hier lebend ankommen, versterben ca. die Hälfte an verschiedenen Komplikationen. An dieser Zahl haben wir fast nichts geändert. Ein Herzstillstand ist eben ein sehr schweres Ereignis. Von der anderen Hälfte blieben in der historischen Kontrollzeit 35 bis 40 Prozent im Syndrom reaktionsloser Wachheit (früher: apallisches Syndrom). Mit der Kühlbehandlung haben wir diese Rate eindrucksvoll auf die Hälfte reduziert.
esanum: Sie können also doppelt so vielen Menschen helfen wir vordem?
Dr. Storm: Ja, wir sind froh, das mit großen Zahlen belegen zu können und überzeugt, dass alle Krankenhäuser, die Patienten nach Herzstillstand behandeln, diese Methode anwenden sollten. Wir haben aktuell vom Europäischen Reanimationsrat die neusten weltweit gültigen Leitlinien zur Wiederbelebung und zur Postreanimations-Therapie erhalten. Die neuen Leitlinien berücksichtigen auch die skandinavischen Studienergebnisse der verschiedenen Zieltemperaturen und empfehlen eindeutig weiterhin eine Temperaturkontrolle zwischen 32°C und 36°C bei letztlich jedem Patienten im Koma nach Wiederbelebung mit unterschiedlichem Evidenzgrad für die verschiedenen Subgruppen.
esanum: Wie viele halten sich daran?
Dr. Storm: Wir haben vor einigen Jahren in Deutschland eine Umfrage gemacht. Etwa achtzig Prozent der Krankenhäuser haben gesagt, sie nehmen eine Kühlung vor. Auf Nachfrage zeigte sich: fast die Hälfte hatten kein SOP und eine kleine Gruppe hatte auch kein professionelles Material. Eiswürfel, Fenster auf, Heizung aus – das ist nicht das, was wir unter kontrollierter Thermobehandlung verstehen. Die Temperatur ist ein wichtiger Vital-Parameter, den wir genauso ernst nehmen müssen wie Herzfrequenz und Blutdruck. Und wenn wir das beeinflussen, muss das präzise und steuerbar sein.
esanum: Wie erklären Sie sich diese Unterschiede?
Dr. Storm: Manche Kritiker der gezielten, kontrollierten Kühlung sagen, die Datenlage sei nicht ausreichend. Das kann ich nicht nachvollziehen. Manche sagen auch, die Nebenwirkungen sind gefährlich. Aber so ist es nicht. Wenn zum Beispiel ein Tier Winterschlaf macht, dann senkt es zur Reduktion des Energiebedarfs seine Körpertemperatur ab. Dann fällt auch die Herzfrequenz ab. Das ist normal. Wenn wir das bei den Patienten machen, fällt sie auch ab. Völlig normal und in den meisten Fällen ungefährlich. Aber häufig hören wir von Krankenhäusern, dass sie gerade solche Nebenwirkungen fürchten. Doch unsere Daten mit 1000 Patienten und der Vorher-Nachher-Effekt, die sind es, die das Team hier im Haus überzeugen. Viele der kritisch eingestellten Krankenhäuser haben keine eigenen Daten zum Verlauf ihrer Patienten.
esanum: Es geht also auch um einen Überzeugungsprozess unter der Ärzteschaft?
Dr. Storm: Es ist ein Prozess. Vor 20 Jahren dachte man noch, dass der Patient über den Berg ist, wenn das Herz wieder schlägt. Die Behandlung des Herzstillstandes war damit abgeschlossen und der Patient kam in die Intensivstation. Heute wissen wir aus der Tierforschung und aus großen Studien am Menschen, dass die Gehirnzellen auch in der Postreanimationsphase weiterhin Schaden nehmen können, dass sich der Hirnschaden sogar noch vergrößern kann.
esanum: Und Kühlung kann das verhindern?
Dr. Storm: Wenn wir die Temperatur auf 32° bis 34° senken, können wir die Freisetzung der gefährlichen Mediatoren im Gehirn zum Teil bremsen oder stoppen. Nicht alle Patienten haben denselben Verlauf, manche würden sicher auch ohne Kühlung auskommen. Aber wir können leider nicht in das Gehirn hineinschauen, es gibt keine Methode, in den ersten Stunden zu messen, wer von der Kühlung profitiert und wer nicht. Also bevorzugen wir ein SOP, das gezielte Kühlung für alle Patienten nach Reanimation vorsieht.
esanum: Ärgert es Sie, dass manche Kollegen das nicht ganz so sehen?
Dr. Storm: Ich sage es lieber so: Es ist nicht gerechtfertigt, dass es vom Zufall abhängt, welche Behandlung – und damit auch welche Chance – ein Patient bekommt. Dass er also Glück oder Pech haben kann, je nachdem, wo er einen Herzstillstand erleidet und wo er eingeliefert wird. Das ist nicht zu akzeptieren.
esanum: Ihr Herzensanliegen ist also, die gezielte Kühlung auszuweiten auf alle Kliniken?
Dr. Storm: Ja, grundsätzlich denken wir, dass es gute und belastbare Daten gibt, dass diese Kühlung keine Schädigungen macht. Man hat lange diskutiert, ob sie vielleicht Infektionen begünstigt oder zu Gerinnungsstörungen führt. Man hat viele Untersuchungen dazu durchgeführt, auch wir, und solche Schäden konnte niemand signifikant darstellen. Also geht es um ein Abwägen von Nutzen und Risiko. In Anbetracht der Schwere der Krankheit ist die Behandlung nachweislich angezeigt.
esanum: Wie stellen Sie sich die optimale Behandlung vor?
Dr. Storm: Ich stelle mir das so vor, dass jedes Krankenhaus, das solche schwerstkranken Patienten behandelt, nach einem schriftlich fixierten Standard vorgeht. Darin steht, welche Patienten auf welche Zieltemperatur gekühlt werden. Das gibt dem Personal große Sicherheit. Und das sorgt auch für Patientensicherheit. Im schriftlichen SOP sollen auch Nebenwirkungen, die auftreten können, fixiert werden.
esanum: Und wie lange soll gekühlt werden?
Dr. Storm: Mindestens 24 Stunden. Und dann wird über 16 Stunden aufgewärmt. Das ist unser Standard. Unsere derzeitigen Leitlinien empfehlen eine Kühlung zwischen 32° und 36° über mindestens 24 Stunden, gefolgt von einer Erwärmung von max. 0, 5° pro Stunde. Gerade die Wiedererwärmung ist kritisch, wenn wir das zu schnell machen, dehnt sich das Hirn möglicherweise aus und es entsteht ein Hirn-Ödem.
esanum: Das sind sehr konkrete Vorgaben. Sind die wissenschaftlich gesichert?
Dr. Storm: 2013 ist die ganze Geschichte hinterfragt worden. Eine schwedische Studie hat die Frage gestellt: gibt es einen Unterschied, wenn ich die Temperatur auf 33° oder auf 36° halte? Eine Gruppe hat also kontrolliert 36° bekommen, eine andere 33°. Das Ergebnis: Kein Unterschied im Outcome. Wir haben aus der Studie gelernt, dass die Nebenwirkungen bei 36° und bei 33° nicht anders sind. Das heißt für mich, 33° ist eine sichere Temperatur für den Patienten. Die kritischen Häuser haben daraus aber abgeleitet, dass es ausreicht, wenn der Patient kein Fieber hat. Sie machen also gar nichts, solange der Patient kein Fieber hat. Sie bedenken dabei nicht, dass beide Gruppen absolut kontrolliert behandelt wurden und 36° C keine normale Körpertemperatur ist. Da darf es kaum Schwankungen geben. Dafür braucht man ein Kühlgerät, das die Temperatur sehr genau einstellt und hält.
esanum: Die Studienbedingungen waren demnach ganz anders als die Situation hier in Deutschland?
Dr. Storm: Zum Teil ja, hinzu kommt, dass die Zeiten vom Herzstillstand bis zum Beginn einer Herzdruckmassage durch Laienhelfer und damit auch die Zeit der Nicht-Durchblutung im Gehirn in Skandinavien sehr viel kürzer sind. Aus dem oben genannten Grund: der besseren Ersthelfer-Quote. Damit muss man die Frage stellen, ob die Daten überhaupt auf Berlin, Hamburg oder München übertragbar sind. Die optimale Temperatur nach Herzstillstand bleibt weiter unbekannt.
esanum: Warum sind Sie dann für 33° und nicht für 36°?
Dr. Storm: Ich bin für die optimale Zieltemperatur in Relation zur hypoxischen Schädigung des Patienten. Wenn wir einen Patienten übernehmen, können wir dem nicht ansehen, wie schwer der Hirnschaden ist. Der Notarzt berichtet, wie lange er wiederbelebt hat, aber daraus können wir nicht ableiten, ob der Schaden schwer ausfällt oder leicht. Manche sind eine Minute tot und haben einen schweren Hirnschaden, bei anderen sind es 45 Minuten, und sie wachen auf und gehen nach Hause.
esanum: Klingt wie eine Lotterie!
Dr. Storm: Alle, die in dem Bereich forschen, wünschen sich, dass wir eine Möglichkeit finden – Biomarker oder eine technische Untersuchung – mit der wir sagen können, wie der Hirnschaden ausfällt, ob der Patient eine Kühlung bei 33° oder bei 36° oder vielleicht auch gar keine braucht. Aber das können wir noch nicht. Im Moment wird danach gesucht.
esanum: Woran genau forschen Sie in der Charité gerade?
Dr. Storm: Wir forschen hauptsächlich an der Vorhersage der Prognose für den Patienten. Ein Teilgebiet ist, schon bei Aufnahme vorherzusagen, wie schwer der Schaden ist. Und danach geht es um die optimale Temperatur.
esanum: Was wäre für Sie der nächste Schritt in die richtige Richtung?
Dr. Storm: Dass die meisten Krankenhäuser dazu übergehen, kontrollierte Temperaturbehandlungen zu machen bei mindestens 36°. Und ich denke, wir werden in Zukunft dazu kommen, dass wir die Patienten rausfiltern, die von einer tieferen Temperatur profitieren.
esanum: Was tun Sie derzeit, um TTM zu propagieren?
Dr. Storm: Zunächst mal stellen wir den Ist-Zustand fest. Wir haben eine Umfrage in ganz Europa gemacht, haben alle Unikliniken gefragt: Wie viele machen eine Postreanimations-Behandlung, haben ein SOP, wenden Kühlung an, haben ein Kühlgerät, machen kontrollierte Kühlung. Wer macht 36° oder gar nichts. Da die Kühlung nur ein Teil der Therapie ist, haben wir auch weitere Fragen zur Postreanimations-Versorgung gestellt. Jedes Land hat uns die Daten übermittelt. Das wird gerade ausgewertet. Anfang 2016 wird es die Ergebnisse geben. Wir bieten auch Trainingskurse hier im Haus an. Viele Klinken haben Kolleginnen und Kollegen geschickt, die hier gelernt haben, wie sie TTM praktisch umsetzen können. Das wird gut angenommen, der Bedarf ist da.
esanum: Wie gut sind die Chancen für Ihre Patienten, nach optimaler Behandlung wieder ein gutes Leben zu führen?
Dr. Storm: Die Frage des Langzeitverlaufs ist eine sehr schwere Frage. Ob der Patient in zehn, zwanzig Jahren, kognitive Einschränkungen hat, das wissen wir nicht. Was man sagen kann: er ist bei der Entlassung neurologisch so gut, dass er selbständig ohne Hilfe einen Alltag bewältigen kann. Der größte Erfolg wäre, dass er zurück kann an seinen Arbeitsplatz. Manche kommen und bringen eine Erdbeertorte, dann wissen wir, dieser Patient ist im Alltag gut angekommen.
esanum: Warum weiß man dazu so wenig?
Dr. Storm: Wir dürfen aus ethischen Gründen keinen Patienten so einfach kontaktieren. Da gibt es strenge Vorschriften. Außerdem ist es ein insgesamt junges Forschungsgebiet.
esanum: Sie sind Notarzt, sind auf der Intensiv-Station in der Charité und Sie forschen. Haben Sie auch Freizeit?
Dr. Storm: Wenig. Ich habe den Eindruck, dass es ganz viele Fragen in der Forschung gibt, die wir noch beantworten müssen. Und das stärkt die Motivation sehr, auch nach 12 Jahren Forschung.
Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.