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Tagesspiegel Dialogforum: Seltene Erkrankungen schneller diagnostizieren

Wie erhalten Patienten mit einer seltenen Krankheit eine schnelle Diagnose - oder überhaupt eine? Dieser Frage ging das vom Tagesspiegel organisierte Patienten-Dialogforum "Wege aus der Diagnose-Odyssee bei Seltenen Erkrankungen“ am 29. Juni 2022 nach.

Was macht die Politik, um die Diagnostik von seltenen Erkrankungen zu verbessern?

Stefan Schwartze setzt sich als Beauftragter der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten ein und erklärte in seiner Videobotschaft für das Patienten-Dialogforum, dass er auch die 4 Millionen Betroffenen mit einer Seltenen Erkrankung im Blick hat. Er weiß, dass Patienten mit einer seltenen Erkrankung im Gesundheitssystem oft durch das Raster fallen, jahrelange Odysseen mit wiederholten Arztbesuchen auf sich nehmen müssen, nach denen sie manchmal noch nicht einmal eine Diagnose erhalten. Dem Patientenbeauftragten ist auch bewusst, dass dieser lange Leidensweg mit enormen körperlichen und psychischen Belastungen verbunden ist. Und dass es Ärzte braucht, die Patienten zum Spezialisten übermitteln und gut genug vernetzt sind, um einen Experten finden zu können. Schwartze will sich auch weiter darum bemühen, dass dieses Thema im politischen Blickfeld bleibt und Lösungen gefunden werden. Als Erfolge der vergangenen Jahre sieht er die Gründung der verschiedenen Verbünde zur Erforschung seltener Erkrankungen, die Medizin-Informatikinitiative der Bundesregierung, die Finanzierung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), die Überarbeitung der ärztlichen Approbationsordnung und Förderung der Selbsthilfe in Gestalt des Vereins Allianz chronischer seltener Erkrankungen (ACHSE e.V.). Schwartze sieht folgende weitere Maßnahmen als zielführend an: 

  1. Finanzierung des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen (NAMSE) und der Zentren für seltene Erkrankungen in Deutschland sicherstellen
  2. Rahmenbedingungen für forschende Unternehmen verbessern
  3. die medizinische Genomsequenzierung in die Regelversorgung aufnehmen und eine gesetzliche Basis schaffen, denn viele seltene Erkrankungen haben genetische Ursachen. Ein 5-jähriges Modelvorhaben soll 2023 beginnen.

Köhler sieht Finanzierung in Gefahr

Eva Luise Köhler, Gründerin der Eva Luise und Horst Köhler-Stiftung & Schirmherrin vom ACHSE e.V., sieht die Finanzierung allerdings in Gefahr. Zwar gebe es immer mehr Aufmerksamkeit für seltene Erkrankungen in den Medien, immer modernere Verfahren für eine früherere und feinere Diagnosestellung, etwa durch das CORD-MI (Collaboration on Rare Diseases). Mit dem Verbundvorhaben, an dem zahlreiche deutschen Universitätskliniken beteiligt sind, soll die Versorgung und Forschung im Bereich der seltenen Erkrankungen verbessert werden. Genau darum sei sie besonders enttäuscht darüber, dass CORD-MI bei der Medien-Informationsinitiative nicht mehr weit genug oben steht, um durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert zu werden. Das Netzwerk aus NAMSE, 9 Zentren für seltene Erkrankungen und 4 humangenetischen Instituten zeigt für sie, dass Menschen mit seltenen Erkrankungen davon profitieren, wenn Pläne auch umgesetzt werden. Bei jedem dritten Betroffenen im Projekt sei Dank der Einführung strukturierter Behandlungspfade innerhalb eines halben Jahres eine gesicherte Diagnose gestellt worden.

Die Rolle der Zentren für seltenen Erkrankungen

Beim ersten Diskussions-Panel kamen Prof. Dr. Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen am Uniklinikum Marburg, und sein Patient Prof. Günter Pilz als Betroffener und seine Frau Gerti Pilz als Angehörige zu Wort. 

Schäfers Patient Pilz leidet an einer seltenen Ionenkanalerkrankung, bei der zuviel Kalium in die Zellen gelangt und für schwere Anfälle sorgt. Pilz ist der einzige Mensch weltweit mit einer Diagnose für diese seltene Erkrankung. 50 Jahre dauerte es bis dahin. Dabei hatte Pilz schon mit 15 die ersten Symptome. Er fühlte sich nachmittags extrem müde, schob das aber auf andere Ursachen. Und tatsächlich wurde es immer wieder besser, dann wieder schlechter. Mit 47 hatte er die erste Paralyse, eine Lähmung vom Kopf bis zu den Beinen. Er bekam alles mit, was um ihn herum vorging, konnte sich aber nicht bewegen oder sprechen. Irgendwann kamen diese Anfälle täglich und dauerten 2-3 Stunden. Pilz wollte kein "Teilzeitzombie" mehr sein. 160 Ärzte habe er aufgesucht, keiner habe ihm helfen können. Erst als seine Frau Gerti eine Sendung mit Prof. Schäfer sah, erhielt Pilz endlich seine Diagnose. Er schrieb dem Professor einen Brief und dieser stimmte zu, ihn zu behandeln.

Wie können Betroffene mit seltenen Erkrankungen Ärzte bei der Diagnosefindung unterstützen?

Das Zentrum für seltene Erkrankungen bekommt über 1.000 Anfragen im Monat, was hatte ihn bei Pilz überzeugt? "Er hat seine Symptome gut beschrieben und es wurde deutlich, in welcher Bedrängnis er sich befindet", sagt Schäfer. Weil Pilz das Gefühl hatte, dass seine Problem mit dem Essen zusammenhängen, hatte er Tagebuch geführt. Demnach ging es ihm schlechter, wenn er Gemüse aß und besser bei Currywurst mit Pommes. Selbst Wissenschaftler, hatte er erkannt, dass sich im Gemüse Kalium befindet. Schäfer vom Zentrum für seltene Erkrankungen musste nur noch in den Datenbanken der Welt nachsehen und Zellkulturen überprüfen. Die Lösung war am Ende simpel: Eine kaliumarme Diät und kaliumaustreibende Arzneien, seitdem geht es Pilz blendend. Nun habe nicht jeder Patient einen wissenschaftlichen Hintergrund, sagt Schäfer, aber jeder Patient kann sich präzise beobachten, Tagebuch führen, Bilder machen und möglichst detaillierte Angaben machen. "Man braucht Unterstützung, dann können wir auch zum Ziel kommen."

Wie arbeitet das Zentrum für seltene Erkrankungen?

Was machen die Zentren für seltene Erkrankungen anders? Dank Unterstützung der Stiftung habe man mehr Zeit. "Wir schauen uns die Akten ganz genau durch und manchmal finden wir etwas, das nicht passt." Es dürfe aber nicht sein, dass man als Arzt behaupte, ein Patient habe nichts, nur weil man nichts finde. Pilz zum Beispiel war in seiner Verzweiflung auch bei einem afrikanischen Heiler. "Da war ein Raum, in der Mitte mit Stuhl. Er hat sich verkleidet, getanzt, Pfeife geraucht und mir den Rauch ins Gesicht gepustet." Viel schlimmer als das verlorene Geld sei aber die verlorene Hoffnung. "Immer wieder, wenn man zu einem Arzt gegangen ist, ist ein Teil der Hoffnung gestorben, das wiegt viel schwerer."

Was müsste sich ändern, um seltene Erkrankungen schneller zu diagnostizieren?

Damit Patienten das nicht passiert, müssten Ärzte mehr Demut an den Tag legen, sagt Schäfer in der anschließenden Fragerunde zu einem Zuschauer. "Sie haben nichts, das kann man nur sagen, wenn man die Hand ins Feuer legen kann, dass man alles getan hat." Es sei wichtig, bereits Studenten zu vermitteln, dass die Approbation nicht bedeutet, dass wir alles wissen. "Es gibt vieles, was wir wissen, aber auch vieles, was wir nicht wissen. Als ich mit dem Studium anfing, haben wir Magengeschwüre noch psychosomatisch behandelt. Wir müssen offen sein. Der Patient hat immer recht. Wenn er noch Beschwerden hat, müssen wir weiter suchen", sagt Schäfer. Man könne die Probleme nicht als psychosomatisch abtun, wenn man nichts finde. "Vor der Überweisung sollte immer eine Checkliste abgearbeitet werden: Medikamente, Effekte, Hormone, das muss alles vorher abgeklärt werden."

Dass das Projekt CORD-MI abgeschafft wird, sieht Schäfer als ein Riesenproblem. Es gebe keinen Lehrstuhl für seltene Erkrankungen und die Zentren seien immer vom Engagement der beteiligten Ärzte abhängig. "Wir brauchen mehr Strukturen von der Gesundheitspolitik. Wenn jemand einen Herzinfarkt hat, gibt es kein Land, wo man besser versorgt wird, als in Deutschland. Solche Strukturen brauchten wir auch für Seltene Erkrankungen." Ein großes Ärgernis ist für Schäfer auch die Bezahlung durch Fallpauschalen. "Eine Goldene Lösung habe ich auch nicht, aber die blödsinnigen Fallpauschalen führen dazu, dass die Kliniken bei nicht abgeschlossenen Fällen nichts kriegen." Darum würden Diagnosen gemacht, die vielleicht teilweise stimmen, aber dem Patienten nicht helfen.

Ärzte müssen bereit sein, sich helfen zu lassen

So sieht das auch Nicole Heider in der zweiten Diskussionsrunde. Die Pflegewissenschaftlerin hat mit einem Lipödem selbst erfahren, was es heißt, wenn man als dick abgestempelt wird, obwohl man wie sie sehr auf Sport und Ernährung achtet. "Man verlangt als Patient nicht, dass ein Arzt alles weiß. Aber er könnte zugeben, dass er keine Ahnung hat." Auch ihr Kind hat eine seltene Stoffwechselerkrankung, die erst nach vielen Arztbesuchen diagnostiziert wurde. Genau darum engagiert sie sich beim Verein ACHSE, der sich als Navigationshilfe sieht und mit dem SE-Atlas eine digitale Plattform schafft, wo das Wissen um und die Experten und Behandlungszentren für seltene Erkrankungen zusammengetragen werden. "Man muss bei dem Wort Patientenhilfe davon abkommen zu denken, dass da alle im Kreis zusammensitzen. Unsere 130 Mitgliederorganisationen treiben so viel an, auch die kann man fragen nach Experten. Auch Ärzte dürfen sich an uns wenden."

Wie gelingt der Weg von unspezifischen Symptomen zu korrekten Diagnosen?

Schäfer sieht die wichtigste Schnittstelle bei den Hausärzte. "Das wichtigste ist ein guter Hausarzt, der betreut und führt. Die meisten Patienten kommen über engagierte Hausärzte zu uns." Patienten selbst könnten die Diagnose erleichtern, wenn sie die Symptome genau beschreiben und die Zeiten, in denen diese auftreten, in einer Tabelle notieren. Wichtig seien auch neue Medikamente und eine akribische Dokumentation über eigene Befindlichkeien.

Corona hat den Weg für seltene Erkrankungen geebnet

Das zumindest sieht Nicole Schlautmann von Pfizer. "Die Pandemie hat die Lupe auf alles gelegt, was in unserem Gesundheitssystem verbesserungswürdig ist." Sie hat aber auch gemerkt, dass die Diagnosen von bereits erforschten Krankheiten zurückgehen, weil viele nicht zum Arzt gehen. Aber ohne Diagnose gebe es keine Forschung. 

Schäfer sieht sogar die seltenen Erkrankungen als Innovationstreiber. "Die Telemedizin gab es hier vorher schon, weil viele Patienten nicht die lange Anfahrt auf sich nehmen können. Es wäre eine vergeudete Chance, wenn wir die IT-Initiative nicht nutzen. Wir verschenken unglaubliches Potential, wenn wir die Seltenen Erkrankungen nicht als Innovationstreiber nutzen, um die Digitalisierung voranzutreiben."