Seit 1971 gibt es in Deutschland Kindervorsorgeuntersuchungen. Die erste Untersuchung (U1) findet gleich nach der Geburt statt, die letzte (J1) im Jugendalter. Die Ärzte tragen ihre Befunde im sogenannten “Gelben Heft“ ein. Doch Kinder aus sozial schwachen Familien nehmen seltener an den empfohlenen Vorsorgeuntersuchungen teil als Nachwuchs aus der Mittel- und Oberschicht.
Gleichzeitig diagnostizieren Kinderärzte bei ihnen jedoch häufiger Entwicklungsstörungen, wenn sie an den empfohlenen Untersuchungen teilnehmen. Dies geht aus einer Stichprobenanalyse der “Gelben Vorsorgehefte“ hervor, deren Ergebnisse Leipziger Wissenschaftler jetzt in der Fachzeitschrift “DMW Deutsche Medizinische Wochenschrift“ veröffentlicht haben. Darüber hinaus liefert die Studie erstmals wissenschaftliche basierte Erkenntnisse über die Dokumentationsqualität und den Informationsgehalt der “Gelben Hefte“. Beides ist nach Ansicht der Autoren stark verbesserungswürdig.
Erstautorin Alexandra Weithase wertete gemeinsam mit Kollegen unter Leitung von Professor Wieland Kiess, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig, die “Gelben Hefte“ von fast 2.000 Kindern aus. Diese hatten zuvor bereits an der LIFE-Child-Studie des Leipziger Forschungszentrums für Zivilisationskrankheiten teilgenommen. Im Rahmen dieser seit 2011 laufenden langfristigen Studie untersuchen Kiess und Mitarbeiter, wie Umweltfaktoren und Lebensgewohnheiten die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beeinflussen. Neben den dokumentierten Daten der Vorsorgehefte standen den Wissenschaftlern zudem Angaben zur Schul- und Berufsausbildung, beruflichen Stellung und dem Einkommen der Eltern zur Verfügung. So konnte bei der aktuellen Untersuchung ein Zusammenhang zwischen der sozioökonomischen Schicht und den Untersuchungsergebnissen gezogen werden.
Die Wissenschaftler stellten fest, dass der Anteil Kinder mit niedrigem sozialen Status, die an den Vorsorgeuntersuchungen teilnahmen mit knapp 15 Prozent vergleichsweise gering war. Wenn sie teilnahmen, ließ das Interesse häufig nach den ersten Untersuchungen nach. So wurde die U9 nur noch bei 83 Prozent der Kinder mit niedrigem sozialen Status durchgeführt. Zum Vergleich: In der oberen Sozialschicht nahmen noch gut 92 Prozent an der U9 teil.
Dabei sind es gerade die späteren Untersuchungen, bei denen Ärzte Entwicklungsauffälligkeiten diagnostizieren, und das vorwiegend bei Kindern aus sozial schwachen Familien. In der Untersuchung U8 (im Alter von vier Jahren) hatten rund 13 Prozent Störungen in der Sprachentwicklung. Der Anteil war fast doppelt so hoch wie in der mittleren und oberen Sozialschicht. Aber auch motorische Entwicklungsstörungen und psychosoziale Auffälligkeiten waren häufiger. Bei Störungen des Sehens und Hörens gab es dagegen keine signifikanten Unterschiede.
Des Weiteren beschäftigten sich Alexandra Weithase und Kollegen mit der Frage, ob sich die “Gelben Hefte“ als Grundlage für umfassende wissenschaftliche Untersuchungen zur Häufigkeit von Erkrankungen eignen und zur Qualitätsprüfung der medizinischen Versorgung von Kindern herangezogen werden können. Beides ist nach Ansicht der Wissenschaftler zurzeit kaum möglich. Das liege vor allem daran, dass es bislang den Kinderärzten überlassen bleibe, welche Untersuchungsmethoden sie verwenden und wie sie die Krankheiten dokumentieren. Um eine fundierte Auswertung zu ermöglichen, müsse jedoch klar definiert sein, welche Informationen in welcher Form in das “Gelbe Heft“ gehören.
Zudem stießen die Forscher in ihrer Untersuchung auf viele “unplausible“ Einträge. So würden beispielsweise chronische Seh- oder Hörstörungen bei einigen Untersuchungen notiert, bei anderen aber fehlte jeder Hinweis darauf. Sehr hinderlich sei auch, dass die Kinderärzte ihre Befunde noch immer handschriftlich und teilweise unleserlich eintragen. Neben der Einführung systematisierter Untersuchungsabläufe und standardisierter Testverfahren sei deshalb auch unbedingt eine Digitalisierung der Untersuchungsbefunde anzustreben.