Steckt hinter der Störung des Sozialverhaltens (SSV) häufig eine Traumafolgestörung? Ja, meint Dr. Marc Schmid, Leitender Psychologe der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Klinik Basel. Nein, widerspricht Prof. Dr. Manfred Döpfner, Leitender Psychologe am Zentrum für Neurologie und Psychiatrie der Universitätsklinik Köln. Döpfners Einschätzung nach wird eine Störung des Sozialverhaltens eher zu stark auf ein ursächliches Trauma reduziert.
„Wir müssen verstehen weshalb Jugendliche sich verhalten wie sie sich verhalten“, betonte Schmid. Traumatische Erlebnisse bei Kindern und Jugendlichen mit einer Störung des Sozialverhaltens seien eher die Regel denn die Ausnahme. Die hohe Komorbidität bei SSV lasse sich über Psychotraumatologie gut erklären. "Es gibt kaum ein Störungsbild, in dem die psychosozialen Lebensumstände so eine Bedeutung haben wie bei den Störungen des Sozialverhaltens", so Schmid.
Traumatische Erfahrungen bei Menschen, die lange in hochbedrohlichen Szenarien waren zeigten, dass diese Menschen stark zur Aggressivität neigten. "Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) entstehen typischerweise erst dann, wenn diese Menschen in wieder in sicherer Umgebung sind", so Schmid. Traumatische Erfahrungen in der Kindheit träten häufig auf (Copeland et al. ,2007). Bei Kindern, die körperlich oder sexuell misshandelt wurden waren PTBS signifikant komorbid zusammen mit affektiven Störungen (Ackermann et al., 1998).
Traumatisierte Kinder wie Erwachsene neigten dazu, ihre Aggression gegen andere oder sich selbst zu wenden, so Schmid.
In einer eigenen Untersuchung hatten Schmid und Kollegen an Heimkindern untersucht, wie häufig traumatische Erlebnisse in der Kindheit waren. 18% berichten über ein traumatisches Erlebnis, 50% über mehr als drei solcher Erlebnisse. 20% der Mädchen mit SSV wiesen eine PTBS auf, so Schmid.
Ätiologische Modelle zur Erklärung von SSV gingen von einer psychosozialen Lerngeschichte und von Entwicklungsdefiziten aus gibt. Andere Modelle werten das aggressive Verhalten als besondere Art der Informationsverarbeitung und der Interpretation von schwierigen sozialen Interaktionen, worin dann eine erhöhte Bedrohung gesehen wird, gegen die man sich wehren muss.
"Die Modelle können aber nicht erklären, woher das Verhalten rührt. Ohne die Verknüpfung der Biographie vergibt man die Chance das zu individualisieren und man vergibt auch die Chance, das ressourcenorientierter umzudeuten."
SSV-Modelle stellen folgende psychopathologische Symptome bei SSV in den Mittelpunkt: Soziale Informationsverarbeitung, Emotionswahrnehmung, Emotionsregulation, Umgang mit Frustrationstoleranz, Belohnungsaufschub, Selbstwirksamkeit und soziale Interaktionen.
Doch schaue man sich an, wie die komplexe PTBS nach ICD-11 aussehe, würden genau diese Aspekte als charakteristisch für eine Traumafolgestörung genannt: PTBS, Emotionsregulationsprobleme, Selbstwertregulationsprobleme, Impulsivitätsprobleme und Probleme in sozialen Beziehungen und Interaktionen. Schmid wertet vor allem das inter-personelle Misstrauen – eine Traumafolge – als wichtigen Prädiktor für reaktives, aggressives Verhalten.
Viele der Kinder die im Vorschulalter schon aggressives Verhalten zeigen, zeigten im Langzeitverlauf auch noch andere Störungen. So erfüllten 70% der Betroffenen mit SSV auch die Diagnosekriterien für weitere psychische Erkrankungen. Typisch sei bei SSV auch ein Wechsel der Symptome: ADHS, Bindungsstörungen, im späteren Alter dann Suchtstörungen. 56% der Jugendlichen mit Störungen des Sozialverhaltens wiesen auch ein hochunsicheres Bindungsverhalten auf, so Schmid: "Je mehr Traumatisierung desto stärker die Ausprägung in allen Diagnosebereichen und eben auch beim aggressiven Verhalten".
"Das Problemverhalten der Jugendlichen zu verstehen, bedeutet nicht, dass man damit einverstanden ist", betont Schmid. Er glaubt, dass ein Perspektivenwechsel – Störungen des Sozialverhaltens sind Traumafolgestörungen – einen anderen, besseren Zugang zu den Kindern und Jugendlichen und damit aussichtsreichere Therapien ermöglicht.
Psychoeduktion könne dann greifen, wenn man den Jugendlichen verständlich machen könne, dass ihr Problemverhalten eine normale Reaktion auf unnormale Geschehnisse sei. Er sieht in der klaren Zuordnung vor allem Vorteile für die Diagnose und Therapie. So erführen die Jugendlichen mehr Empathie wenn klar sei, dass ihren SSV ein Trauma zugrunde liege.
"Wir therapieren unsere Patienten nicht um sie von etwas zu heilen, das ihnen in der Vergangenheit angetan worden ist. Vielmehr versuchen wir sie von dem zu heilen, was sie immer noch sich selbst und anderen antun, um mit dem was ihnen in der Vergangenheit angetan wurde, fertig zu werden", schloss Schmid.
Döpfner, der auch als Gutachter tätig ist, beschrieb am Fall des 15jährigen delinquenten M., dass SSV zu sehr als PTBS und Traumafolge reduziert werden. M. ist Schulverweigerer, permanent in körperliche Auseinandersetzungen mit seinen Pflegeeltern und seinem drei Jahre jüngeren Pflegebruder verstrickt, bedroht und bestiehlt Mitschüler und droht dem Lehrer, ihn abzustechen. Bei Ms Wutausbrüchen gehen Gegenstände zu Bruch, mit 18 und 19jährigen begeht er Diebstähle in Elektronikmärkten. In der Therapie klagt M. über Langweile und Lustlosigkeit und malt seine Zukunft in düsteren Farben. In seiner Herkunftsfamilie hat M. Gewalt zwischen den Eltern erlebt, Hinweise dass er misshandelt worden ist, gab es nicht.
"Für mich als Gutachter ist problematisch, dass die Diagnose bei M. lautete: PTBS, Verdacht auf reaktive Bindungsstörungen – und sonst nichts!", berichtet Döpfner. "Ich frage mich: Wo bleibt die Störung des Sozialverhaltens?" Als Therapie für M. wurde. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), ein in der Traumatherapie eingesetztes Verfahren zur Ressourcenaktivierung, empfohlen. Aus Döpfners Sicht eine Fehleinschätzung und Fehlbewertung.
Sehr viele Jugendliche mit SSV erhielten die Diagnose emotionale Störung, PTBS oder Bindungsstörung. Die Ätiologie zu SSV werde zu sehr auf die Traumatheorie reduziert, kritisiert Döpfner. Seiner Einschätzung nach liegt das daran, dass die Diagnose SSV weiterhin wie ein Schuldspruch wahrgenommen würde.
"Überspitzt ausgedrückt läuft das so: Kinder mit Störungen des Sozialverhaltens aus ungünstigem sozialem Umfeld können doch nichts dafür, dass sie so geworden sind. Und deshalb ist es auch keine SSV", sagt Döpfner.
Würde SSV hingegen als Traumafolgestörung gewertet, könne man als Therapeut besser auf das Kind eingehen. Ein falscher Ansatz, wie Döpfner betont: "Ich habe als Therapeut überhaupt kein Problem damit ein Kind mit SSV zu verstehen, auf es einzugehen und einen Beziehungsplan zu machen – dazu brauche ich keine Traumatheorie."
Führt ein Trauma zur Störung des Sozialverhaltens? Döpfner findet die These gewagt. Bei der Entwicklung zur kindlichen Delinquenz (Hinshaw et al., 2002) finde sich eine lange Reihe von zusätzlichen Einflussfaktoren: Eltern, Schule, peers, Nachbarschaft. "Es gibt kaum eine Störung bei der Umweltfaktoren eine so große Rolle spielen wie bei den Störungen des Sozialverhaltens", betont Döpfner.
Traumata und SSV treten gehäuft gemeinsam auf (50%). PTBS und SSV hingegen träten seltener gemeinsam auf (10-30%), so Döpfner. Und er betont, dass die Mehrzahl der Erwachsenen mit Lifetime SSV keine körperliche, emotionale oder sexuelle Misshandlung in der Kindheit und Jugend erfahren hätten.
Döpfners Einschätzung nach sind Traumatisierung und Posttraumatische Belastungsstörung eher die Folge und nicht die Ursache von Störungen des Sozialverhaltens. Auch führe eine Traumabehandlung nicht zu einer eindeutigen Verminderung externaler Störungen.
Referenz:
XXXV. DGKJP Kongress, 22.- 25. März 2017, CCU Ulm, Pro-Contra-Debatte, 23. März 2017, 14.45– 16.15 Uhr.