Monatelange Fahrtzeiten, wenig Kontakt zur Familie und stets auf Abruf: Das Leben an Bord kann Seeleute psychisch extrem belasten. Eine Studie der Berufsgenossenschaft Verkehr zeigt auf, wie ihre Situation verbessert werden könnte.
Peter Geitmann ist lange zur See gefahren. Er kennt deshalb den Mythos des gestandenen Seemanns, der mit seinen breiten Schultern alles ertragen kann. "Seeleute, die sich für den Beruf entscheiden, wissen natürlich, worauf sie sich einlassen", räumt Geitmann ein, der inzwischen Schifffahrtssekretär der Gewerkschaft Verdi ist.
Aber von ihnen werde oft mehr abverlangt, als sie seelisch verkraften könnten. Sie sind mehrere Monate am Stück unterwegs, arbeiten an sieben Tagen die Woche täglich mindestens zehn Stunden, sind immer abrufbar, haben kaum Kontaktmöglichkeiten zu ihren Familien und leben auf engstem Raum mit Menschen unterschiedlichster Kulturen zusammen. "Man kann nicht zur Entspannung ins Kino oder ein Bier trinken gehen", so Geitmann.
"Das Bordleben bedeutet eine Extremsituation", sagt auch Manuel Burkert. "Gerade wenn man jung ist und noch nicht so häufig von Zuhause weg war." Der Arzt berät über Funk von Cuxhaven aus männliche und weiblich Seeleute, die auf den Weltmeeren unterwegs sind. Drei Mal musste der Mediziner schon Psychosen diagnostizieren, ausgelöst durch den Schiffsalltag. "Das kommt aber nur ganz selten vor", betont Burkert.
Typisch sind dagegen Symptome, für die der Arzt an Land in der Regel nicht angefunkt wird. Eine aktuelle Studie der Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft (BG Verkehr), für die über 300 Seeleute befragt wurden, zeigt, dass die Betroffenen ihren Stress an Bord durch zu viel ungesundes Essen und vermehrtes Rauchen kompensieren. In schlimmeren Fällen kommt es zu Gemütsschwankungen bis hin zu Depressionen und Schlafstörungen. Viele Seeleute leiden unter chronischer Müdigkeit, wodurch schneller Unfälle passieren.
Das zeigte sich auch bei der ersten Augensprechstunde der Hilfsorganisation Mehrblick in Kooperation mit der Seemannsmission im Hamburger Hafen. Die Resonanz überraschte die Organisatoren. "Wir hatten einen Riesenzulauf", erzählt die Hamburger Diakonin Maike Puchert. Viele Seeleute dachten, sie hätten einen Sehfehler, weil sie unter Lidzucken und tränenden Augen litten. Tatsächlich waren es Symptome von Erschöpfung.
"Vielen Crew-Mitgliedern steht die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben", sagt auch Seemannspastor Gerke, der im Bremerhavener Überseehafen regelmäßig an Bord von Schiffen geht. Denn der Schiffsbetrieb hat immer Vorrang. Für die einfachen Seeleute, die meist von den Philippinen oder aus Indien kommen, sind die Fahrtzeiten mitunter doppelt so lang wie für die nautischen Offiziere aus Europa oder Russland. "Hinter ihnen stehen oft große Familien, die abhängig von ihren Einkommen sind", so Gerke. Viele sagen: Sie opfern ihr Leben für das der Familie.
Manche verlören ihren Antrieb, zögen sich sozial zurück. "Es verändert jemanden, wenn er lange Zeit an Bord ist, einen eingeschränkten Radius hat und wenig selbst gestalten kann", betont Gerke. Die Seeleute gewöhnten sich daran, auf kleinstem Raum zu leben, würden lethargisch und ängstlich neuen Situationen gegenüber. So blieben sie in Häfen selbst bei längeren Liegezeiten lieber an Bord.
Andere nutzen einen Hafenstopp wenigstens für einen Besuch in der Seemannsmission, um dort mit der Familie zu telefonieren. "Es gibt etliche Schiffe, die kein Internet für die Besatzung anbieten", sagt Gewerkschafter Geitmann. Vielen Reedereien sei das zu teuer, weil eine Verbindung nur über Satellit möglich ist. Nicht wenige litten stark unter Heimweh.
Die Studie der BG Verkehr kommt so auch zu dem Schluss, dass sich ein preisgünstiger Internetzugang, möglichst auf der eigenen Kabine, positiv auf die Psyche der Seeleute auswirken könnte. "Die meisten Besatzungsmitglieder wünschen sich lieber einen besseren Kontakt zur Familie und kürzere Fahrtzeiten als eine höhere Heuer", so Geitmann.
Neben den alltäglichen Herausforderungen passieren auch immer wieder schwere Unfälle an Bord, Havarien oder Überfälle. In einer meist kleinen Besatzung sei der Tod eines Kollegen erheblich belastend, heißt es in der Studie. Nach Auskunft von Geitmann ist in solchen Fällen ein Krisenmanagement aber nicht verpflichtend. "In vielen Fällen merken die Betroffenen selbst erst zu spät, dass sie ein Trauma erlitten haben", sagt Geitmann. Denn auch manch Seemann denkt, alles ohne Hilfe schultern zu können.