Die eigenen kleineren Verletzungen, zugezogen etwa am heißen Backblech, verarztet Sarah Strauß selbst: ein wenig Spinnenseide in die Wunde, abgedeckt mit etwas Fettgaze, ein Pflaster oder Verband zur Fixierung. Die promovierte Biologin leitet das "Spider Silk Laboratory" der Medizinischen Hochschule Hannover und ist überzeugt vom Wert der Spinnenseide für die Medizin. Aufgrund ihrer jahrelangen Forschung – und diverser Selbstbeobachtungen. Die Verbrennungswunde am Arm – obwohl recht tief – heilt rasch und ohne eine Narbe zu hinterlassen.
Seit gut 15 Jahren wird unter dem Dach des Kerstin Reimers Labors an der Klinik für Plastische, Ästhetische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie zu Spinnenseide geforscht. Anfangs wurde das Interesse der Forschenden an den Achtbeinern von manchen Mediziner-Kollegen belächelt, sagt Sarah Strauß: "Die spinnen." Doch machte das Forschungsteam unter Leitung von Klinikchef Prof. Dr. Peter Vogt bald mit bemerkenswerten Erfolgen auf sich aufmerksam.
Dabei waren die Spinnen eher ein Zufallsfund – auf der Suche nach Möglichkeiten, geschädigte periphere Nerven zu regenerieren. Die ersten krabbelnden Exemplare holte man sich aus dem Zoologisch-Botanischen Garten Stuttgart. Weil das mit der Seide tatsächlich prima klappt, experimentieren die Forschenden weiter mit dem Material. Es stellt sich als hoch biokompatibel, sehr heilsam und vielseitig verwendbar heraus: geeignet als Wachstumsmatrix für Gewebe wie künstliche Haut oder Knorpel oder als chirurgisches Nahtmaterial - Fäden, die nicht gezogen werden müssen, weil sie vom Körper vollständig resorbiert werden. Auch als Herniennetz hat sich der Wunderfaden im Tiermodell schon bewährt. Noch wird die Seide nicht zur klinischen Prüfung am Menschen eingesetzt. Die Vorbereitungen dafür aber laufen.
"Eigentlich haben wir das nur wiederentdeckt", sagt Sarah Strauß. Dass Spinnenseide den Heilungsprozess einer Wunde verkürzt, wussten schon die alten Römer und machten es sich zunutze. Allerdings: Die Fäden zur Anwendung einfach von der Wand zu pflücken, wie es wohl im Altertum üblich gewesen sein dürfte, davon rät die Biologin ab. Im Reimers Labor wird das Naturprodukt zunächst gereinigt und sterilisiert, ehe es zum Einsatz kommt. Was sich dann in der Wunde beobachten lässt: Blutungen werden rasch gestoppt und zugleich eine Vielzahl kleiner Kapillaren, feinster Blutgefäße rekrutiert, wodurch das sich neu bildende Gewebe besser versorgt und in kürzerer Zeit eine dickere Epidermis gebildet wird. Dass das auch in einer großflächigen Akutwunde beim Schaf funktioniert hat, wertet Sarah Strauß als gewichtigen Beleg für die Heilkraft des Spinnenfadens. "Schafe sind nicht gerade Wundheilkünstler."
Für ihre Forschung halten Sarah Strauß und das Forschungsteam in einem eigens hergerichteten 30 qm großen "Spinnenwohnzimmer" eigene Tiere aus der Familie der Goldenen Radnetzspinne, die sonst im tropischen oder subtropischen Australien heimisch sind. Bis zu 150 Exemplare bewohnen das kleine Paradies ohne natürliche Feinde und mit Futter frei Haus. Im Gegenzug werden die Weibchen zweimal pro Woche "gemolken": Dafür wird der für die Medizin besonders interessante – weil nicht klebrige – Halte- oder Notfallfaden, den die Spinne zum schnellen Abseilen produziert, mithilfe eines kleinen Motors auf eine Spindel gewickelt. Die Prozedur ist den Tieren vertraut und schmerzfrei. In einer Viertelstunde lassen sich so bis zu 200 Meter Seide gewinnen. – Ein höchst erstaunliches Produkt: 0,002 mm im Durchmesser, enorm strapazierfähig und flexibel, bakteriostatisch und fungizid, es wirkt wundheilungsfördernd und löst nur eine geringe Immunantwort aus. Es könnte für die Wundheilung künftig gute Dienste leisten.
Spinnenseide ist nicht das einzige, für medizinische Zwecke ziemlich interessante Geheimnis der Natur, von deren Erforschung Wissenschaft sowie Ärztinnen und Ärzte sich Behandlungsfortschritte versprechen. Das Axolotl etwa, ein mexikanischer Schwanzlurch, gilt als wahrer Wundheilungskünstler. Es kann ganze Organe oder Gliedmaßen bei Verlust voll funktionsfähig regenerieren. Das Team vom Reimers Labor hat die Anwendung eines Enzyms namens AmbLOXe, das die Tiere während der Wundheilung produzieren, patentieren lassen. "Das können wir mithilfe von Bakterien auch in vitro herstellen", sagt Sarah Strauß. Noch weiß man nicht genau, warum dieses Amphibien-Enzym für die Wundheilung eine Rolle spielt. Aber auch an menschlichen Zellkulturen hat es Wirkung gezeigt: eine schnellere Wundheilung nämlich. "Im nächsten Schritt wollen wir sehen, ob das auch im Gewebeverband funktioniert." Dafür wird das Enzym an menschlicher Vollhaut aus Gewebespenden getestet, die im benachbarten OP-Saal anfallen.
Menschliche Haut bleibt in der Klinik für Plastische, Ästhetische, Hand- und Wiederherstellungschirurgie der Medizinischen Hochschule Hannover beispielsweise bei Körperstraffungen zurück – im Prinzip als Abfallprodukt. "Bisher wurde das entsorgt", sagt Sarah Strauß. "Jetzt haben wir eine Gewebebank für diese Haut eingerichtet." Das Einverständnis zur Spende von Patientenseite vorausgesetzt, wird die Haut aufbereitet und in einem speziellen Medium eingefroren. Sie bleibt dadurch vital, hat also gegenüber künstlicher Haut auf Glycerinbasis oder der Gewebespende von Verstorbenen den Vorteil voller Funktionsfähigkeit, vor allem eine aktive Wärme- und Feuchtigkeitsregulierung. Das macht sie etwa für die Primärdefektabdeckung bei Schwerstbrandverletzten zur Alternative, die ein besseres Outcome für die Patienten erwarten lässt.