Mithilfe einer neuartigen genetischen Technik ist es Wissenschaftlern erstmals gelungen, das Fortschreiten der Spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Säuglingen und Kleinkindern zu verlangsamen.
„Dies ist eine vielversprechende Behandlungsmethode für die häufigste genetische Todesursache im Kindesalter“, so Professorin Christine Klein, Leiterin des Instituts für Neurogenetik an der Universität zu Lübeck und Stellvertretende Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN).
Die hier genutzte Antisense-Technik könnte auch bei anderen seltenen Erbkrankheiten erfolgreich sein, so Klein. Es gebe mehr als 5000 seltene Erkrankungen, an etwa 80 Prozent davon seien wahrscheinlich die Gene beteiligt. Außerdem manifestiere sich die Mehrzahl der bekannten genetischen Erkrankungen mit neurologischen Symptomen. „Deshalb setzen wir große Hoffnung in die neurogenetische Forschung“, betont Klein.
Die Spinale Muskelatrophie (SMA) ist eine neuromuskuläre Erkrankung, bei der bestimmte Nervenzellen absterben. Die seltene Erbkrankheit betrifft vor allem Kinder, deren Muskulatur degeneriert. Je nach Schweregrad der Erkrankung lernen sie dadurch nicht, frei zu sitzen oder alleine zu laufen. Ursache ist ein fehlendes oder defektes Gen für einen Nervenschutzfaktor (Survival Motor Neuron 1, SMN1).
Ohne dieses Eiweiß gehen die Motoneuronen des Rückenmarks und des Hirnstamms zugrunde, die Bewegungen einschließlich des Schluckens und des Atmens kontrollieren. Die Folgen sind fatal: Bei der schwersten Verlaufsform überlebte bislang nicht einmal ein Viertel der Kinder ohne künstliche Beatmung die Diagnose um mehr als zwei Jahre. Eine ursächliche Therapie gibt es nicht.
Den Beweis, dass die sogenannte Antisense-Technik funktionieren kann, haben nordamerikanische Neurologen mit der aktuellen Studie erbracht, über die sie in der Fachzeitschrift „The Lancet“ berichten. Insgesamt 20 Säuglinge, die zwischen der dritten Lebenswoche und dem sechsten Lebensmonat an der Spinalen Muskelatrophie erkrankt waren, haben Richard S. Finkel vom Nemours Children’s Hospital, Orlando, und seine Kollegen behandelt.
Sie injizierten den Kindern mehrmals den Wirkstoff Nusinersen ins Nervenwasser des Rückenmarks. Zwar verstarben vier der 20 Babys trotz der Behandlung. Zum Zeitpunkt des Berichtes aber waren 16 noch am Leben. 13 von ihnen konnten ohne fremde Hilfe atmen, und bei 14 hatte sich die Muskelfunktion gebessert. Teilweise konnten diese Kleinkinder nun den Kopf aufrecht halten, greifen, stehen und sogar laufen. Solche Veränderungen hatte man bislang bei unbehandelten Kindern mit dieser Form von SMA nicht beobachtet. „Eine Heilung bedeutet das nicht“, sagt Professorin Klein, „aber die Therapie scheint wirksam zu sein.“
Die Neurologin hebt hervor, dass der molekulare Mechanismus wie geplant funktioniert hat: Nusinersen ist ein synthetisch hergestelltes Molekül, das spezifisch konstruiert wurde, um ein Ersatzgen für SMN1 zu aktivieren, das fast baugleiche SMN2. Es könnte ebenfalls den Nervenschutzfaktor liefern, der die Motoneuronen am Leben hält – allerdings hat SMN2 einen „Webfehler“, der die Übersetzung der Erbinformation in das rettende Eiweiß um 75 bis 90 Prozent verringert.
Diesen Webfehler konnte Nusinersen offenbar beheben. Das von Wissenschaftlern der Firma Ionis hergestellte synthetische Molekül heftet sich an einer genau vorausberechneten Stelle an ein Zwischenprodukt (Boten-RNS), welches die in SMN2 enthaltenen Erbinformationen an die Eiweißfabriken der Zellen übermittelt. Nusinersen verhindert dadurch, dass aus der SMN2-Boten-RNS ein Abschnitt entfernt wird und die Erbinformation unbrauchbar wird.
Die Menge korrekt übersetzter Boten-RNS stieg um das 2,6-Fache auf einen Anteil von 50 bis 69 Prozent. Durch Messungen der Eiweißkonzentration im Rückenmark konnten die Forscher außerdem zeigen, dass die behandelten Kinder um durchschnittlich 63,7 Prozent mehr SMN-Protein bildeten als unbehandelte Kinder.
Die Nebenwirkungen des Verfahrens wurden von den Patienten gut toleriert. Man könne die Sicherheit dieser genetischen Therapie als akzeptabel einstufen, so Professorin Klein. Eine weitere, noch nicht veröffentlichte Studie mit Nusinersen bei älteren Patienten mit SMA war ebenfalls erfolgreich, teilte die Herstellerfirma mit.
Unmittelbar vor Weihnachten gab die US-Zulassungsbehörde FDA bekannt, dass das Medikament für die Behandlung der SMA sowohl bei Säuglingen als auch bei Erwachsenen zugelassen wurde.
„Dieser Durchbruch weckt begründete Hoffnung auf die so lange erwartete Wende in der translationalen Anwendung von Erkenntnissen aus der Molekulargenetik von der reinen Diagnostik hin zu klinisch-therapeutischen Anwendungen im Sinne einer personalisierten Medizin“, so Klein.
Die Antisense-Technik könne auch auf andere Erkrankungen angepasst werden, erwartet sie. Während bei SMA die Übersetzung eines Gens optimiert werde, ließe sich stattdessen auch das Ablesen schädlicher Gene verhindern. Im Tierversuch ist dies beispielsweise bei Mäusen schon gelungen, die als Modell für die Huntington’sche Krankheit dienten. Aber auch in klinischen Studien wurde und wird die Antisense-Technik bereits erprobt, beispielsweise gegen die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Rheuma, Asthma, Morbus Crohn sowie eine Vielzahl von Krebserkrankungen.
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