Eine sorgenfreie Kindheit ist für den Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Schulte-Markwort ein Mythos. Er glaubt, dass ein besseres Verständnis für ihre seelischen Nöte Kinder helfen könnte. In einem neuen Buch zeigt er das an vielen Beispielen auf.
In seinem Buch "Kindersorgen" nimmt der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiater Michael Schulte-Markwort die als überbesorgte "Drohnen-Eltern" gescholtenen Mütter und Väter in Schutz. "Ein zu großes Verständnis gibt es nicht, ebenso wenig, wie es zu viel Liebe geben kann", konstatiert der Professor am Universitätsklinikum Eppendorf. In anonymisierter Form schildert er Fallbeispiele aus seiner täglichen Praxis, bei denen das Verstehen der erste Schritt zur Heilung ist.
Als erstes Beispiel nennt er den achtjährigen Emil, der im Zirkus mit Schrecken auf eine vermeintlich komische Nummer von Clowns reagiert. Diese lassen Knallfrösche in ihrem Hintern explodieren, was Emil Angst macht. Sein Vater ist genervt, die Mutter versteht ihren Jungen nicht. Doch Emil hat recht, betont Schulte-Markwort. Viele Späße seien mehr Ausdruck aggressiver Impulse und nicht von der Idee getragen, eine gemeinsame Freude und Fröhlichkeit auszulösen. Die Eltern sollten die überdurchschnittliche Sensibilität des Jungen nicht bekämpfen, sondern von ihm lernen.
Schulte-Markwort plädiert dafür, die kindlichen Sorgen ernstzunehmen. Häufig sei es ihm in seiner fast 30-jährigen Berufstätigkeit gelungen, allein durch Gespräche ausweglos erscheinende Fälle zum Guten zu lösen. Aber nicht immer ist es so einfach. Der junge Flüchtling Ahmad aus Syrien bringt ihn und seine Mitarbeiterinnen mit seinen Ausrastern an Grenzen. Der 15-jährige Rico, der zwanghaft duscht, muss stationär behandelt werden. Und für Corinna kann Schulte-Markwort eigentlich gar nichts tun, außer trösten. Die Zwölfjährige leidet unter der Trennung ihrer Eltern. Doch dann lädt er Mutter und Vater zu Therapiegesprächen ein.
Es gehe ihm nicht darum, die Probleme kleiner Menschen groß zu reden. Aber die sorgenfreie Kindheit sei ein Mythos. "Wir projizieren unsere Sehnsucht nach Unbeschwertheit und Sorgenfreiheit auf unsere Kinder", schreibt Schulte-Markwort. Die Ikone kindlicher Unbeschwertheit sei Pippi Langstrumpf, die jedes Problem mutig und stark weglache. Tatsächlich habe er schon viele derartig einsame und ausgeschlossene Mädchen behandelt, sagt der Kinder- und Jugendpsychiater. Wenn Pippi Langstrumpf zu ihm käme, würde er sie in eine therapeutische Wohngruppe mit angeschlossenem Pferdestall schicken. Dort könnte sie sich ohne Gesichtsverlust von ihrer Verweigerungshaltung befreien.
Sein Buch sei ein "Übersetzungsbuch", schreibt Schulte-Markwort. Er will für Eltern, Großeltern und alle, die beruflich mit Kindern zu tun haben, Dolmetscher sein. Tatsächlich gelingt ihm nicht nur die verständliche Darstellung der Kindersorgen, sondern auch der Verzicht auf Fachsprache und professorale Floskeln. Dieses Vorgehen spiegelt zugleich seine therapeutische Methode wider: Früher habe er bei der Diagnostik gern auf standardisierte Fragebögen zurückgegriffen, bekennt Schulte-Markwort. Heute glaube er, seinen Patienten nur über ein vertieftes Verständnis ihrer Innensicht effektiv helfen zu können.