Viele Flüchtlinge kommen mit schweren seelischen Verwundungen nach Deutschland. Sie haben Krieg, Elend oder Vergewaltigungen erlebt. Nun ist ihre Zukunft ungewiss. Beistand ist nötig.
Es könnte auch andersherum sein: Deutsche flüchten vor Krieg und Not und kommen nach schrecklichen Erlebnissen in ein fernes Land, in dem sie für sich und ihre Familien eine Zukunft erhoffen. Noch ist die Sprache der Einheimischen fremd, die Alltagskultur ungewohnt. Und bald wird zur Gewissheit, dass man hier nicht bleiben kann oder schwerer vorankommt als gedacht. Die Dresdner Psychologin Luise Pabel empfiehlt einen solchen Perspektivwechsel und wünscht, dass sich mehr Menschen einmal in die Gedanken- und Gefühlswelt geflüchteter Menschen versetzen.
Seit Sommer 2015 hat Pabel mit dem Förderverein Traumanetz Seelische Gesundheit eine psychologische Beratung für Geflüchtete in Dresden aufgebaut. Die Psychologen und Fachärzte für Psychosomatik und Psychiatrie konnten dabei auf Erfahrungen der Traumaambulanz am Dresdner Universitätsklinikum bauen. Dort wurden in Regie von Julia Schellong schon zuvor neben deutschen Patienten auch Migranten behandelt. Die psychologische Sprechstunde in der Erstaufnahme ist ein Angebot auch für Mitarbeiter von Flüchtlingscamps: "Es geht vor allem um kurzzeitige Krisenintervention, Deeskalation, Entlastung und Stabilisierung."
Viele Flüchtlinge kämen mit hohen psychischen Belastungen in Deutschland an, sagt Pabel. Manche litten an somatoformen Störungen - Schmerzen oder unklaren körperlichen Symptomen. Ohne Hilfe könne das später in Diagnosen wie Angststörungen und Depressionen münden ."Nachdem schon im Herbst 2015 die Dresdner Flüchtlingsambulanz eröffnet wurde, gingen Geflüchtete dort in die Sprechstunde und klagten über Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Gliederschmerzen oder Herzschmerzen", berichtet die junge Psychologin. "Da war schnell klar, das ist psychosomatisch, eine Belastungsreaktion und keine körperliche Erkrankung."
Lange mussten Pabel und ihr Team Behörden überzeugen, dass psychische Belastungen eine tragende Rolle spielen und die Arbeit der Kollegen eine entsprechende Unterstützung erfährt. Seither werden Geflüchtete nicht nur mit Blick auf ihre körperliche Gesundheit versorgt, sondern auch seelisch. Jede Woche können vier Geflüchtete jeweils eine halbe Stunde in die Sprechstunde kommen, auch Kinder und Jugendliche. Dazu wird eine Kunsttherapie angeboten: "Das ist manchmal wirkungsvoller und leichter als reden", sagt Pabel. Bei Bedarf verweisen Mitarbeiter weiter an die Traumaambulanz, das Psychosoziale Zentrum oder an die Flüchtlingsambulanz. Seit diesem Jahr wird die Sprechstunde von der Sächsischen Aufbaubank gefördert.
Mit der Idee für psychologische Hilfen für Geflüchtete steht Dresden nicht allein. Wie wichtig es ist, vor allem junge Mütter nach einer Flucht zu unterstützen, beschrieb die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber bereits vor zwei Jahren am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt (Main). Furchtbare Erinnerungen ließen sich nicht löschen, erläuterte sie. Doch die ungebrochene Weitergabe von Traumata an die nächste Generation lasse sich abmildern.
Es gehe vor allem darum, die Empathiefähigkeit von Müttern mit kleinen Kindern wieder zu stärken. Denn oft ist die Fähigkeit, sich in die Bedürfnisse eines Kleinkinds einzufühlen, durch schreckliche Erlebnisse blockiert. Nicht bewusst und ohne Absicht - aber mit Folgen. Es beginne bereits mit einer gestörten non-verbalen Kommunikation zwischen Mutter und Baby in den ersten Lebensmonaten. Eine mögliche Folge von Defiziten in dieser prägenden Zeit seien bei Kindern Bindungsstörungen, die sich durch das ganze Leben ziehen könnten.
In Dresden weiß Luise Pabel, dass sich bei längerem Aufenthalt im Camp auch eine Art "Lagerkoller" einstellen kann: "Es ist einfach belastend, wenn die Perspektive so unklar ist und die Wohnbedingungen beengt sind." Alle Altersgruppen seien betroffen. Manche bringen bereits Belastungen aus ihrer Vorgeschichte mit: "Wir haben immer mal wieder Fälle, wo Familien Kinder auf der Flucht verloren haben. In dem Moment, wo die Eltern Symptome einer Belastung zeigen, ändert sich oft die Dynamik in der ganzen Familie. Dann sind alle betroffen."
Bei der Krisenintervention konzentriere man sich nicht auf die Vorgeschichte, sondern auf die Symptome, erzählt sie. Oft sind das Schlaflosigkeit, Alpträume, Ängste und mangelnde Antriebskraft. Manche Flüchtlinge seien durch Erfahrungen mit Folter und Verfolgung oder Todesangst geprägt. Viele würden auf der Flucht die Zähne zusammenbeißen und erst nach der Ankunft seelisch zusammenbrechen.
Und selbst wenn in Sachsens Asylunterkünften Aktivitäten angeboten werden - im Grunde sind Menschen in der Erstaufnahme zum Nichtstun verdammt. "Auch Arbeitslosigkeit führt häufig zu Depressionen. Man hat eine schwere Geschichte hinter sich und weiß nicht, wohin mit sich", sagt Luise Pabel. Das sei bei Einheimischen nicht anders. "Wir Therapeuten möchten nicht nur Geflüchteten, sondern Traumatisierten und psychisch belasteten Menschen egal welcher Herkunft helfen, um sie zu entlasten und zu stabilisieren."
Sie hat beobachtet, dass sich die Klientel in der Sprechstunde verändert hat. "Es sind nicht mehr so häufig die syrischen Familien, die vor dem Krieg flüchteten, sondern Menschen, die in ihrem Land schon Probleme hatten. Und hoffen, dass hier alles besser wird." Wenn sie dann merkten, dass sie auch in Deutschland nicht Fuß fassen könnten, entstehe oft großer Frust und eine "toxische Mischung". Pabel sieht diese Menschen in einem Teufelskreis gefangen und deshalb einen noch größeren Betreuungsbedarf bis hin zu Suchtberatung und Drogenentzug.
Julia Schellong bekräftigt die vielfältigen Anforderungen an die Therapeuten der Krisensprechstunde im Camp: "Dieses Angebot dient nicht nur dazu, Geflüchteten und Camp-Mitarbeitern zu helfen, sondern vor allem der Integration und dem Miteinander mit der Bevölkerung und trägt dazu bei, Gewalt und Konfliktpotenzial einzudämmen - davon haben letztlich alle Bewohner Dresdens etwas."
Das sieht Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping (SPD) nicht anders. "Die Sorge um die psychische Gesundheit der geflüchteten Menschen, die zu uns gekommen sind, ist ein wesentlicher Faktor für eine gelingende Integration. Wie soll sich jemand, der nächtelang von schlimmen Erinnerungen geplagt wird und deshalb keinen Schlaf findet, tagsüber in einem Deutschkurs konzentrieren können?" Aus diesem Grund sei der Aufbau der psychosozialen Beratungszentren in Sachsen eine der drängendsten Aufgaben gewesen: "Ich bin froh, dass wir hier in der Versorgung schon viel erreichen konnten."
Luise Pabel freut es jedes Mal, wenn sie im Camp lachende und spielende Kinder sieht. Sie möchte die Arbeit nicht missen. "Ich habe nur positive Erfahrungen gemacht. Ich könnte das aber nicht ausschließlich machen, weil man viel Leid und harte Schicksale erfährt." Dennoch werde einem auf eine bestimmte Art auch der Kopf zurechtgerückt: "Man bekommt einen Blick dafür, was wirklich wichtig ist im Leben. Man ist dankbar, dass man eine Wohnung hat, einen festen Freundeskreis und eine Familie. Das ist für viele Menschen, die zu uns kommen, keine Selbstverständlichkeit."