Prof. Dr. Tobias J. Renner, Ärztlicher Direktor der Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen zeigte auf dem XXXV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie auf, wann der Medienkonsum als pathologisch einzustufen ist und wie man den Betroffenen helfen kann.
Nach den Daten der JIM-Studie 2016 nutzt der Großteil der 12 bis 19jährigen das Internet zur Kommunikation (41%), dann folgen Musik, Videos, Bilder (29%), Spiele (19%) und Information (10%). Ganz weit oben als Freizeitbeschäftigung steht das Mobiltelefon: 92% nutzen es täglich, 87% sind täglich im Internet unterwegs, 18% greifen täglich zu einem Buch.
Renner kritisiert die starke Polarisierung, die neue Medien auslösen als wenig hilfreich: "Entweder heißt es: Internet & Co sind komplett schädlich oder es heißt, dass sie nur Vorteile bringen. Was wir brauchen ist eine differenzierte Betrachtung der neuen Medien". Das fängt schon bei der Definition an. Sinnvoll, so Renner, ist eine Unterscheidung zwischen generalisierter und spezifischer Internetabhängigkeit. Im DSM-5 wird aber nur online gaming – ein Aspekt der spezifischen Internetabhängigkeit - als Ausdruck der Internetabhängigkeit berücksichtigt.
Der Fachverband Medienabhängigkeit e.V. hat Internetabhängigkeit so definiert:
Im DSM-5 ist die Internet gaming disorder als überdauerndes oder wiederkehrendes Online-Spielen über 12 Monate, das zu klinischer Problematik führt, beschrieben. Mindestens fünf von neun Kriterien müssen zutreffen:
Dass sich eine gaming disorder auch auf das Gehirn auswirkt könnte, legen mehrere Studien nahe (Zhou et al. 2011, Yuan et al. 2011 und 2013). Die Arbeiten zeigen, in MRTs von Jugendlichen mit gaming disorder eine reduzierte Dicke der grauen Substanz in DLPFC, OFC, Insula, ACC und PCC. Die Autoren schlussfolgern, dass das zu einer reduzierten kognitiven Handlungskontrolle führen könnte. Im Trierer Stresstest bei Adoleszenten mit Internet gaming disorder (Kaess et al. 2017) zeigt sich die Reaktion auf akuten Stress in psychologischer als auch in neurobiologischer Ebene verändert. Die erkrankten Jugendlichen klagten – bei gleichen Cortisol-Spiegeln wie die Kontrollprobanden – über mehr akuten und chronischen Stress.
Diagnostisch muss die quantitative und die qualitative Mediennutzung beurteilt werden. Ob ein Suchtverhalten vorliegt wird mit dem Compulsive Internet Use Scale (CIUS), dem Internet Addiction Test (IAT) oder der Skala zum Online Suchtverhalten (OSV) untersucht. Beurteilt wird auch das Leistungsverhalten (schulische/berufliche Integration) das Freizeitverhalten (Hobbies, soziale Integration), das Vorliegen komorbider Störungen, die innerfamiliäre Kommunikation und die Änderungsbereitschaft bei Jugendlichen und Eltern. Renner rät, die Selbstbeurteilung des Spielverhaltens kritisch zu hinterfragen: "Betroffene Jugendliche täuschten sich oft über ihr eigenes Suchtverhalten, wichtig ist als Korrektiv das Gespräch mit den Eltern".
Eine pathologische Internetnutzung ist häufig mit Depressionen assoziiert (Carli et al. 2013). Die zweithäufigste Assoziation liegt mit Angsterkrankungen, gefolgt von ADHS vor. Die Wissenschaftler der Tübinger Spezialsprechstunde (Barth et al. in prep) haben bei 70 Patienten untersucht, wie häufig pathologische Internetnutzung mit Komorbiditäten assoziiert ist. 36% der Patienten leiden an Depressionen, 34% an Störungen des Sozialverhaltens, 14% an ADHS, 7% an Autismus Spektrum Störungen (ASS) und nur 9% weisen keine Komorbiditäten auf.Prospektive Studien wiederum zeigen (Ko et al. 2009), dass Depressionen, soziale Phobien, ADHS und Feindseligkeit Prädiktoren für einen pathologischen Internetgebrauch sind.
Interventiert werden sollte, wenn eine akute oder chronische Gefahr für den normalen Lebensvollzug besteht (soziale Integration, körperliche Gefahr, Suizidalität), die Entwicklung gefährdet ist (zerbrochene Familienkohärenz, unterbrochene schulische und berufliche Integration) oder wenn Jugendliche oder Eltern unter der Situation leiden.
Die therapeutische Haltung sollte sein:
Elemente der Therapie (Romanczuk-Seifert, 2017) sollten sein: Psychoedukation, motivierende Gesprächsführung, Verhaltensanalysen, Training der Selbstsicherheit und sozialer Fertigkeiten, ein Problemlöse- und Selbstmanagementtraining, ein Entspannungstraining, die enge Einbeziehung der Familien und die Behandlung von Komorbiditäten.
Möglicherweise ist der peak der täglichen Onlinenutzung auch bereits erreicht. Daten der JIM-Studie zeigen jedenfalls, dass die durchschnittlich online verbrachte Zeit 2015 noch bei 208 Minuten lag. 2016 bei lag sie bei 200 Minuten. Vielleicht ein Trend?
Referenz:
XXXV. DGKJP Kongress, 22.- 25. März 2017, CCU Ulm
State-of-the-art-Symposium: Pathologische Mediennutzung, 23. März 2017, 16.30 – 17.15 Uhr.