Wenn Christoph Haedicke von dem Brief erzählt, schüttelt er nur den Kopf. Wütend schrieb eine Patientin dem Arzt, sie habe die Notaufnahme des Klinikums Braunschweig “aus Zeitgründen irgendwann wieder verlassen”. Zu lange musste die vermeintliche Notfall-Patientin warten. Die Frau ist kein skurriler Einzelfall. “Viele gehen direkt zu uns in die Notaufnahme statt zum niedergelassenen Arzt”, sagt der Leiter der Notaufnahme. Nicht aus Unwissenheit, sondern weil sie es als praktisch empfänden. Das kennt auch Pfleger Martin Arnold. “Der eine will seinen Impfschutz auffrischen lassen, der andere hat Notfall-Schnupfen”, sagt er.
Überall in Deutschland bevölkern Menschen mit leichten Beschwerden die Ambulanzen der Krankenhäuser. Sie verursachen nicht nur lange Wartezeiten, sondern gefährden auch die Versorgung von Schwerkranken.
Eine Million ambulanter Notfälle pro Jahr gibt es im Land laut Niedersächsischer Krankenhausgesellschaft (NKG). Doch nur die Hälfte davon gehört tatsächlich in die Notaufnahme. Mindestens jeder dritte Patient könnte genauso gut in die Praxis eines niedergelassenen Arztes gehen, ergab ein bundesweites Gutachten der NKG. Und doch kommen Jahr für Jahr mehr Patienten direkt in die Notaufnahme. Über 31 000 Menschen waren es im vergangenen Jahr alleine am Braunschweiger Klinikum – rund tausend mehr als 2014.
Auffallend ist, dass unter den Notfall-Patienten überproportional viele Menschen mittleren Alters sind. Und die kommen nicht etwa dann zum Krankenhaus, wenn die Arztpraxen geschlossen haben: Den höchsten Zulauf hat das Klinikum Braunschweig werktags zwischen zwölf und 16 Uhr. Die Erwartungshaltung habe sich verändert, meint Pfleger Arnold: “Warum sollte jemand lange auf einen Facharzttermin warten, wenn er im Krankenhaus das Komplettprogramm bekommt?”
Für die Krankenhäuser sind ambulante Fälle in der Notfallaufnahme finanziell ein Verlustgeschäft. Für die Behandlung von Patienten, die die Klinik sofort wieder verlassen können, gibt das Krankenhaus im Durchschnitt 120 Euro aus. 32 Euro bekomme es anschließend erstattet, erklärt NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke. Das Geld stammt aus dem Topf der niedergelassenen Ärzte.
Doch was tun? “Wir können nicht immer neue und größere Notaufnahmen bauen. Wir müssen etwas an den Abläufen ändern”, meint Notaufnahme-Leiter Haedicke. Zum Jahresanfang trat das Krankenhausstrukturgesetz in Kraft. Darin ist auch die Einführung sogenannter Portalpraxen geregelt. Dort soll der Notdienst der niedergelassenen Ärzte arbeiten – in direkter Nachbarschaft zur Notaufnahme.
Ohne eine solche Praxis ist es schwierig, Patienten aus der Notaufnahme weiterzuschicken. “Wer möchte schon das Risiko eingehen, jemanden abzulehnen?”, fragt Pfleger Arnold. Doch seit November gibt es auch am Braunschweiger Klinikum eine Notdienst-Praxis der niedergelassenen Ärzte. Sie ist von der Innenstadt an den Stadtrand ins Klinikum gezogen. So sei das Weiterleiten von Patienten mit Bagatellbeschwerden leichter geworden, sagt Arnold.
Ähnliche Praxen gibt es mittlerweile im ganzen Land. In den 98 sogenannten Bereitschaftsdienstbezirken gibt es 62 Krankenhäuser mit einer ärztlichen Bereitschaft im Haus. Das Problem sei dadurch aber nicht gelöst, sagt der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen, Detlef Haffke. “Selbst da, wo die Praxen etabliert sind, sind die Notaufnahmen überlastet.” Schuld daran sei eine fehlende Patientensteuerung. Wer sich schnelle Hilfe und das komplette Behandlungsprogramm wünsche – sei es verhältnismäßig oder nicht – komme nach wie vor in die Notaufnahme.
Die Folgen bekommt Andrea Mackensen zu spüren. Seit vier Stunden wartet sie in der Notaufnahme. Wegen eines Schwindelgefühls war sie bereits beim Hausarzt, der hat sie ins Krankenhaus überwiesen. “Ich verstehe das Problem. Aber gerade, wenn man sich nicht gut fühlt, ist die Warterei unangenehm”, sagt sie.
Auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) in Braunschweig würde man sich eine bessere Steuerung wünschen. Am liebsten mit einer gemeinsamen Tür, wo zuerst die Verteilung des Patienten geregelt wird. Es gibt auch die Forderung von Ärzten nach einer Art Eintrittsgebühr für die Notambulanz. Einen Betrag von 50 Euro hält Thorsten Kleinschmidt von der KV Braunschweig für angemessen. “Wer dann wirklich ein Notfall ist, bekommt sein Geld zurück.” Er weiß aber auch, dass sich der Vorschlag kaum durchsetzen lässt.
Den Unmut bei den wartenden Patienten würde so eine Regel vermutlich erstmal weiter vergrößern. Schon jetzt sei es nicht immer einfach, mit den Patienten umzugehen, erzählt Krankenpfleger Arnold. “Wir haben es nicht mit körperlichen Übergriffen zu tun, aber mit aggressiven Worten und Beleidigung”, berichtet er. Nicht leicht sei das Ganze: “Wir wollen schließlich helfen, dafür sind wir ja da.”
Text: dpa /fw
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