Nutzen Patienten die 24-Stunden-Bereitschaft der Notaufnahmen, um Erkrankungen behandeln zu lassen, mit denen sie auch ambulant in einer Arztpraxis behandelt werden können? Lediglich 20 Prozent der Notaufnahmepatienten hätten auch ambulant versorgt werden können, meint Prof. Dr. med. Christoph Dodt, Chefarzt des Notfallzentraums/Präklinik im Klinikum München-Bogenhausen und Präsident der Deutschen Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), im Interview mit esanum. Der bei weitem größte Teil der etwa 20 Millionen Notaufnahmepatienten in Deutschland müsse nach der Untersuchung stationär versorgt werden oder benötige spezifische Leistungen eines Krankenhauses.
Dodt: Auf Basis des Gutachtens zur ambulanten Notfallversorgung im Krankenhaus, das die DGINA gemeinsam mit der Deutschen Krankenhausgesellschaft beauftragt hat, werden von den 20 Millionen Notfallpatienten pro Jahr gut 40 Prozent stationär versorgt. Sie müssen also im Krankenhaus aufgenommen werden. Etwa weitere 40 Prozent können nach einer ambulanten Behandlung in der Notaufnahme sofort entlassen werden. Allerdings werden bei ihnen spezifische Leistungen eines Krankenhauses benötigt, die im Notfall weder in einer Arztpraxis noch in einer Bereitschaftspraxis der Kassenärztlichen Vereinigungen unverzüglich erbracht werden könnten. Dazu gehören beispielsweise Röntgen-, CT- oder Laboruntersuchungen sowie weitere fachspezifische und fachübergreifende Behandlungen – etwa durch Unfallchirurgen, Gynäkologen oder Kinderärzte. Zu dieser Gruppe gehören auch die Patienten, die mit dem Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht werden, die aber dank der aufwendigen Behandlungen in den Notaufnahmen nicht stationär aufgenommen werden müssen.
Lediglich 20 Prozent der Patienten hätte eigentlich auch ambulant in einer Arztpraxis behandelt werden können. Diese Möglichkeit ist aber nachts und an Wochenenden nicht überall oder nicht durchgehend vorhanden, wie auch aus dem Gutachten hervorgeht. Nicht zuletzt schätzen diese Patienten das große diagnostische Angebot der Notaufnahmen. Denn nur im Krankenhaus kann eine Vielzahl unterschiedlicher Untersuchungen zeitnah durchgeführt werden – und das an jedem Tag des Jahres, rund um die Uhr.
Dodt: Notaufnahmen sind für Patienten gedacht, die notfallmäßig im Krankenhaus aufgenommen werden müssen. Bei ihnen ist davon auszugehen, dass die Behandlung krankenhausspezifische Leistungen erfordert. Ersteinschätzung und Diagnostik dienen dabei vorrangig der Stabilisierung der Vitalfunktionen.
Demnach definieren die notfallmedizinischen Fachgesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz in ihren „Fünf Thesen zur Weiterentwicklung der Notfallmedizin in Deutschland, Österreich und der Schweiz“ auch alle Personen als medizinischen Notfall bzw. als Notfallpatienten, die körperliche oder psychische Veränderungen im Gesundheitszustand aufweisen, für welche sie selbst oder eine Drittperson unverzügliche medizinische und pflegerische Betreuung als notwendig erachtet.
Dodt: Patienten, die eigentlich durch einen niedergelassenen Arzt behandelt werden könnten, suchen ein Krankenhaus meist außerhalb der regulären Sprechstundenzeiten auf. Nur wenige versuchen, durch das Aufsuchen einer Notaufnahme die Wartezeit auf einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt zu umgehen. Zum einen wissen sie, dass in einer Notaufnahme keine fachärztliche Behandlung unmittelbar zur Verfügung steht – selbst wenn eine spezielle Fachabteilung vorhanden wäre. Zum anderen müssten Patienten, die mit Problemen in die Notaufnahme kommen, die auch ambulant in einer Praxis hätten behandelt werden können, längere Patienten in Kauf nehmen, da ihre Behandlungsdringlichkeit geringer eingeschätzt wird, als die von „echten“ Notfällen.
Dodt: Notaufnahmen müssen hocheffizient arbeiten, um die Komplexität in der Notfallmedizin bewältigen zu können. Dafür ist einerseits eine interdisziplinäre Organisation ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Sie sollten also als eigenständige Abteilung zentraler Anlaufpunkt für alle Notfälle sein und mit eigenem fachübergreifenden Personal arbeiten. Nur so kann sichergestellt werden, dass ein breites Wissen über akute Erkrankungen und Verletzungen vorhanden ist. Andererseits könnte die Ablaufplanung vielerorts noch optimiert werden – zum Beispiel durch die Einführung von standardisierten Ersteinschätzungsverfahren. Zudem ist eine stärkere Entlastung von nicht-ärztlichen Tätigkeiten nötig – wie etwa Blutabnahme, Bettensuche, Befundanforderungen oder Dokumentation.
Dodt: Für die unverzichtbare ambulante Notfallversorgung im Krankenhaus muss eine geeignete Vergütung geschaffen werden, um die Unterdeckung von derzeit etwa 80 bis 90 Euro pro behandeltem Fall in diesem Bereich zu beseitigen. Dafür muss die klinische Notfallversorgung endlich als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge anerkannt werden. Ähnlich wie Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste sollte sie aus einem ausreichend hohen Budget finanziert werden, das Notaufnahmen in die Lage versetzt, stets alle notwendigen strukturellen und personellen Ressourcen vorzuhalten. Denn über die Fallpauschalen ist die Vorhaltung der umfangreichen Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten rund um die Uhr nicht gedeckt.
Denkbar wäre zum Beispiel, dass Krankenhäuser, die qualifiziert und regelmäßig an der Notfallversorgung teilnehmen, einen Zuschlag im DRG-System erhalten, der ihre Vorhaltekosten deckt. Dieser Notfallzuschlag sollte gestaffelt und angepasst sein an das Versorgungsspektrum des Krankenhauses. Dafür müssten allgemeine Kriterien im Sinne von prozessualen und strukturellen Mindestanforderungen definiert werden, die zu jeder Tages- und Nachtzeit an allen Tagen erfüllt sein und vorgehalten werden müssen.
Dodt: Die Kosten einer modernen Notaufnahme sind im Vergleich zu einer Arztpraxis während der regulären Sprechstundenzeiten etwa viermal so hoch. Dafür halten sie ein umfangreiches Leistungsangebot vor, um lebensbedrohliche Notfälle an 365 Tagen im Jahr, rund um die Uhr rasch und kompetent versorgen zu können. So können hier beispielsweise Labor- und Röntgendiagnostik, aber auch andere Leistungen, wie Gipsverbände oder eine Kreislaufüberwachung, innerhalb kurzer Zeit durchgeführt werden. Bei Bedarf können andere Fachrichtungen hinzugezogen werden, um etwa eine zweite oder dritte Meinung einzuholen.
Dodt: Um das breite interdisziplinäre Know-how der Notfallmedizin zu beherrschen, hat sich in vielen angelsächsischen Ländern das Facharztmodell durchgesetzt. Da hierzulande ein solcher Vorschlag derzeit beim Deutschen Ärztetag im Rahmen der Novellierung der Musterweiterbildungsordnung nicht die notwendige Mehrheit finden würde, fordert die DGINA zunächst die bundesweite Einführung einer 36-monatigen Zusatz-Weiterbildung „Klinische Notfall- und Akutmedizin“, wie sie auch im Juni 2014 von der Ärztekammer Berlin beschlossen wurde. In Ergänzung einer Facharztkompetenz sollte sie die interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung von Notfall- und Akutpatienten im Krankenhaus umfassen und die Ausbildungsinhalte des europäischen Curriculums für Notfallmedizin weitgehend erfüllen.
Dodt: Notfallmediziner sollten gute, rationelle Diagnostiker mit einem breiten Wissen und einer hohen Sicherheit in lebenserhaltenden Maßnahmen sein, um selbst komplexe Beschwerdebilder behandeln zu können. Sie müssen belastbar sein und sollten Interesse an vielfältigen unterschiedlichen Aufgabenstellungen mitbringen. Vor allem in Extremsituationen gilt es weiterhin, einen kühlen Kopf zu bewahren. Darüber hinaus sind Ruhe, Abgeklärtheit und Professionalität wichtig, um solche Situationen überblicken zu können. Nicht zuletzt sollte man gut mit anderen im Team arbeiten können.
Interview: Volker Thoms