esanum: Was sind die Highlights des Deutschen Krebs-Kongresses 2016?
Prof. Dr. Angelika Eggert –Kongresspräsidentin des Deutschen Krebskongresses 2016
Prof. Eggert: Wir haben uns für den Deutschen Krebskongress 2016 ein bestimmtes Motto ausgesucht: P4-Medizin – das kommt aus dem Amerikanischen und soll reflektieren, wie ganzheitlich das Thema angegangen werden muss. Das erste P steht für “Personalisiert”, mittlerweile ein Modewort für eine Medizinrichtung, die sich der molekularen Information bedient, um dann für jeden Patienten maßgeschneidert das richtige Therapie-Konzept zu finden.
Das zweite P bedeutet “Präventiv”, eine ganz wichtige Voraussetzung dafür, frühzeitig den Krebs zu erkennen und nicht erst zu behandeln, wenn es schon zu spät ist. Die Strategien der Prävention geben auch Rat, wie man eine gesunde Lebensführung dazu nutzen kann, möglichst keine Risiken aufzubauen.
Das dritte P meint “Partizipativ”, das ist der aktuelle und wichtige Trend, die Patienten aktiv in den Entscheidungsprozess miteinzubeziehen. Es gibt ja auch bei Krebs alternative Behandlungswege und der Patient ist in unterschiedlichen Lebens- und Belastungssituationen. Man muss diese persönlichen Faktoren in den Bewertungsprozess einbringen: Was ist für den jeweiligen Patienten die richtige Strategie? Eher etwas sehr Aggressives mit vielen stationären Aufenthalten oder eher etwas Zurückhaltendes? Das Lebensalter, die persönliche Bewertung des Patienten und seine Ziele spielen bei der Therapieentscheidung eine wichtige Rolle.
Das vierte P haben wir etwas abgewandelt, bei den Amerikanern heißt das “Predictive”, im Sinne der Risikovorhersage einer Krankheit auf der Basis molekularer Informationen. Wir nennen es lieber “Präzise”, weil die Krebsmedizin nicht nur medikamentös präzise funktionieren muss, sondern auch häufig eine präzise Chirurgie und Bestrahlung braucht. Auch dort gibt es Innovationen, zum Beispiel die Protonentherapie. Wir haben uns beim gesamten Kongress bemüht, viele transnationale Forschungsergebnisse einzubeziehen. Wir bieten dazu erstmalig einen ganz eigenen Programmstrang an, weil wir wollen, dass die jungen Forscher, der akademische Mittelbau, sich auf dem Kongress wiederfinden kann, dass ein Austausch stattfindet und auch die Schnittfläche zwischen niedergelassenen Kollegen und Krankenhausärzten berücksichtigt wird.
esanum: Welche echten Neuigkeiten erwarten die interessierte Öffentlichkeit?
Prof. Eggert: Zwei neue vielversprechende Bewegungen gibt es in der Krebsmedizin. Das eine ist die Immuntherapie mit vielen erfolgreichen klinischen Studien im letzten Jahr. Es gibt dort auf vielen Ebenen neue Therapien. Zum einen das, was man schon lange kennt, die Antikörper. Aber wir sind jetzt auch in der Lage, Zellen des Immunsystems gentechnisch so zu verändern, dass wir sie als Munition gegen Tumorzellen scharf machen können.
Die andere Neuigkeit sind so genannte Checkpoint-Inhibitoren, das sind relativ neue Medikamente, die dafür sorgen, dass die Tumorzellen sich gegen den Angriff des Immunsystems nicht so gut wehren können. Sie lösen quasi die Bremse des Immunsystems und dadurch können viele Medikamente besser angreifen. Das sind neue Konzepte, die bei vielen Krebsarten schon gute Ergebnisse zeigen, u.a. bei Melanomen, beim Nierenzell-Karzinom, teilweise auch bei Lungenkrebs.
Nicht mehr ganz so neu, aber auch auf einem guten Weg, sind die molekular gezielten Medikamente. Wir können heute die Oberfläche eines Tumors mit molekularen Methoden untersuchen und seine Eigenschaften mit wenigen komplexen Analysen abbilden. Wir können dann sehen, welche Gene zur Ausstattung eines Tumors gehören, welche Proteine, welche epigenetischen Veränderungen.
Im nächsten Schritt sucht man dann nach passenden Medikamenten gegen diese Eigenschaften. Das funktioniert wie ein Schlüssel-Schloss-Prinzip und diese Medikamente sind so intelligent, dass sie eine Tumorzelle von einer normalen Zelle unterscheiden können. Die Hoffnung ist, dass diese Behandlung besser verträglich ist, weil die Tumorzelle gezielt erkannt und vernichtet werden kann. Ob dieses Prinzip mit einem Medikament allein erfolgreich sein kann, oder ob wir auch hier Kombinationen von Medikamenten brauchen, wie bei der Chemotherapie, das wissen wir noch nicht. Wahrscheinlich werden wir erst in 5-10 Jahren sagen können, wie und wann diese Medikamente am besten einzusetzen sind. Aber es gibt sie schon, sie sind zugelassen und wir sehen auch erste vielversprechende Ergebnisse.
esanum: Erleben Patienten und Mediziner jetzt gute Zeiten in der Krebs-Medizin, da beinahe wöchentlich neue Therapien zugelassen werden?
Prof. Eggert: Ja, nie war es spannender in der Krebsforschung. Auch als Kliniker müssen wir die Vielfalt der Möglichkeiten erstmal kennenlernen. Das ist aufregend, da passiert eine Menge. Ich kann mir vorstellen, dass es in den fünfziger Jahren eine ähnliche Aufbruchstimmung gab, als die ersten Chemotherapien auftauchten. Der Abstand zwischen Laborbank und Krankenbett wird immer kleiner.
esanum: Wenn es Neues gibt, gibt es auch mehr Fehler. Oder?
Prof. Eggert: Eine gute Praxis ist, neue Medikamente im Rahmen klinischer Studien gründlich zu testen. Ehe sie in der breiten Praxis ankommen, vergeht noch einige Zeit.
esanum: Was hat sich speziell auf Ihrem Gebiet verändert?
Prof. Eggert: Auch in der Kinder-Onkologie sind wir auf den beiden Wegen unterwegs, die ich bereits genannt habe. Wir haben uns deutschlandweit in dem Projekt “INFORM” zusammengetan, in dem alle Rückfall-Tumoren kindlicher Krebserkrankungen mit modernsten technologischen Möglichkeiten molekular untersucht werden. Das haben wir bereits in einer Pilot-Phase zwei Jahre lang gemacht, so dass wir nun wissen, welche molekularen Muster, welche Gen-Veränderungen neue Angriffspunkte für molekular gezielte Medikamente bieten. In naher Zukunft wollen wir auf der Basis dieser molekularen Information auch ein neues Behandlungs-Konzept anbieten.
esanum: Welche Kontroversen sehen Sie, die auf dem Kongress deutlich werden? Neue Medikamente und Therapien rufen ja nicht nur Befürworter, sondern auch Skeptiker auf den Plan.
Prof. Eggert: Es gibt immer Kontroversen. Das ist auch gut so. Es muss zu jedem Thema eine Diskussionskultur geben. Wir haben gezielt einige Pro-und-Contra-Sitzungen eingeplant. Zum Beispiel taucht bei der molekularen Diagnostik die Frage auf: brauchen wir noch die klassische Pathologie? Das geht natürlich zu weit. Aber es ist immerhin ein anderer Zweig in der Pathologie entstanden, der auch Weiterbildung erfordert. Die WHO hat jetzt beispielsweise kindliche Hirntumoren auf Basis der molekularen Diagnostik völlig neu klassifiziert. Die Frage muss nun erlaubt sein, was kann die klassische Pathologie und was können die neuen Methoden zusätzlich beitragen?
esanum: Wie erleben Sie die derzeit hochkochende Kostendiskussion?
Prof. Eggert: Natürlich müssen wir uns Gedanken machen, wie das alles finanziert wird und auch in den Dialog mit den Kostenträgern treten. Wenn wir allen Patienten Checkpoint-Inhibitoren geben würden, ohne vorher molekular zu diagnostizieren, würde das sozusagen die Bank sprengen. Das muss diskutiert werden. Wichtig dabei: Wie wählen wir die Patienten aus, die davon wirklich profitieren können? Ich bin optimistisch, dass das gelingen kann.
esanum: Wie soll diese Auswahl aussehen?
Prof. Eggert: Es geht darum, gezielt jene Patienten zu identifizieren, deren Tumor die passenden Eigenschaften für ein spezielles Medikament aufweist. Und da sind wir beim nächsten Kostenproblem. Die molekulare Diagnostik wird im Moment nur im Rahmen von Forschungsprojekten finanziert. Die Genom-Sequenzierung ist bisher in keinem Leistungskatalog enthalten.
esanum: Werden Ärzte immer mehr und schneller dazu lernen müssen, wenn es in Richtung individueller, gezielter Therapien geht und für den Einzelfall dutzende oder sogar hunderte Behandlungs-Varianten und Kombinationen von Wirkstoffen infrage kommen?
Prof. Eggert: Ja, darum gibt es auch neue Studiengänge für Molekular-Medizin und medizinische Biologie. Wir planen an der Charité zudem ein neues Masterstudium für System-Medizin. In den großen Tumor-Zentren werden die Tumor-Konferenzen im Moment auf molekulare Tumor-Konferenzen umgerüstet. Da sind dann auch Bioinformatiker und Biologen dabei, die komplexe molekulare Daten analysieren und interpretieren. Wir müssen uns so vernetzen, dass in jeder Region ein solches Zentrum zugriffsbereit ist, gegebenenfalls auch per Tele-Medizin. Dahin wird die Reise gehen, dass beratende Experten-Gremien flächendeckend zur Verfügung stehen.
Vera Sandberg, geboren 1952 in Berlin, absolvierte ihr Journalistik-Studium in Leipzig und war 12 Jahre lang Redakteurin einer Tageszeitung in Ost-Berlin. Im Juni 1989 wurde ihr die Ausreise bewilligt, seit 1990 ist sie Autorin für verschiedene Publikationen, Journalistin für medizinische Themen und hat mehrere Bücher geschrieben, zuletzt “Krebs. Und alles ist anders”. Vera Sandberg ist Mutter von zwei inzwischen erwachsenen Kindern und lebt seit 2000 bei Berlin.