Robert Koch würde sich vermutlich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, mit welchen Hygieneproblemen wir uns rund 150 Jahre nach seinen Entdeckungen herumschlagen. Rund 150 Jahre nach der bahnbrechenden Erkenntnis, dass OP-Besteck und Hände desinfiziert werden müssen, um nicht todbringende Keime zu übertragen, sterben heute Menschen an Infektionen, die sie sich ausgerechnet dort einhandeln, wo sie medizinische Hilfe erwarten: In Klinken und Krankenhäusern.
Es gibt nur Schätzungen darüber, wie viele Patienten durch Erreger sterben, die sie sich erst im Krankenhaus zuziehen. Krankenhaushygieniker sprechen von bis zu 40.000 im Jahr – dreimal so viele wie im Straßenverkehr. Darunter sind etwa 25.000 Todesfälle wegen multiresistenter Erreger. Das Bundesgesundheitsministerium spricht bei den nosokomialen Infektionen, wie die Krankenhausinfektionen genannt werden, von insgesamt 10.000 bis 15.000 im Jahr. Ein Drittel davon könnte, so schätzen Hygieniker, durch bessere Hygiene verhindert werden. Natürlich sind Kochs Entdeckungen unvergessen. Und natürlich wird desinfiziert, geputzt und gereinigt, was immer mit Patient und Behandler in Berührung kommt. Dennoch: Die Welt ist seit Kochs Zeiten in puncto Bakterien gefährlicher geworden. Das liegt unter anderem an unserem oft zu unkritischen Umgang mit Antibiotika. Zunehmende Resistenzen sind die Folge.
Mit Staphylococcus aureus in seiner multiresistenten Form – als Krankenhauskeim MRSA bekannt und gefürchtet – hatten Kochs Zeitgenossen jedenfalls noch nicht massenhaft zu tun. Bei uns sind die hochgefährlichen Keime für 30 Prozent der Krankhausinfektionen verantwortlich. Mindestens drei Prozent der Bevölkerung sollen diesen oder einen anderen multiresistenten Erreger in der Nase oder im Darm haben. Das ist kein Problem, solange der Organismus gesund ist. Erst wenn der Erreger über Wunden, Spritzen oder Beatmungsgeräte tiefer in den Körper gelangt, wird es bedrohlich. Es können Blutvergiftungen, Lungen- oder Hirnhautentzündungen auftreten, manchmal müssen Gliedmaßen amputiert werden. Ein bitteres Fazit der Experten für Krankenhaushygiene: Übertragungswege sind zumeist Schmierinfektionen durch mangelnde Händehygiene.
Seit Jahren gehen Hygieneexperten in Krankenhäusern gegen solche Probleme vor. Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) von 2011 sieht vor, dass die Hygieniker Reinigungskontrollen durchführen, Mitarbeiter schulen und Infektionsstatistiken führen. Eine Klinik ab 400 Betten muss einen Hygieniker beschäftigen. Es gibt eine Vielzahl von Maßnahmen und Regelungen zur Verbesserung der Hygiene in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen. Die Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention beim Robert Koch-Institut (KRINKO) erstellt Empfehlungen zur Prävention nosokomialer Infektionen sowie zu betrieblich-organisatorischen und baulich-funktionellen Maßnahmen der Hygiene in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen. Was bekanntermaßen bei unseren Nachbarn in den Niederlanden zu deutlich geringeren Infektionszahlen geführt hat – ein regelmäßiges Screening des Personals und der neu aufzunehmenden Patienten – ist in Deutschland nur bei Risikokonstellationen empfohlen. Das ist ohne Frage der schwierigen Situation der Krankenhausfinanzierung hierzulande geschuldet. Zudem wollen investigative Journalisten herausgefunden haben, so berichtete das ARD-Magazin Plusminus schon 2014, dass 26 Prozent der Krankenhäuser die Hygienevorschriften des RKI nicht erfüllen und zu wenig Hygienepersonal beschäftigen. Selbst wenn die Zahl übertrieben sein sollte, fragt sich der entsetzte Laie zu Recht: Wie kann das sein? Gestresste Kliniker kennen einige Antworten, über die sie ganz selten laut reden.
Normalerweise werden Patienten, von denen bekannt ist, dass sie den multiresistenten MRSA-Keim tragen, auf der Station isoliert und erst am Ende eines OP-Tages operiert. Dann kann der Saal hinterher besonders gründlich gereinigt werden. Es kommt aber vor, berichtete eine Krankenschwester auf faz.net, dass Patienten mit Keimen ganz normal auf der Station liegen und nur selten in einem separaten Zimmer. Und sie werden auch regelmäßig am Anfang eines OP-Tages oder mittendrin operiert. Bis zur nächsten Operation ist dann kaum genug Zeit, alles vorschriftsmäßig zu reinigen. Ein Einzelfall? Wohl kaum. Das würde die deutschlandweit hohen Infektionszahlen nicht erklären.
Jeder Kliniker kennt den Kostendruck, hat mit eng getakteten OP-Plänen sowie Zeit- und Personalmangel zu kämpfen. Immer wieder muss er neu entscheiden, an welcher Seite das Tischtuch nun zu kurz ist. Doch die Hygiene, die seit 150 Jahren als lebensrettend bekannt ist, darf darunter niemals leiden. Das zu wissen, dazu braucht es keine Leitlinien und keine zusätzlichen Experten. Das sagt einem der gesunde Medizinerverstand. Und auch dem Gesundheitsökonom sollte klar sein: Infektionsrisiken aus Kostengründen in Kauf zu nehmen, ist kaufmännisch widersinnig. Eine britische Studie zu den sozioökonomischen Folgen nosokomialer Infektionen ermittelte eine Erhöhung der Krankenhauskosten auf das 2,8-fache. Was sagt uns das? Sparen können wir so nur kurzfristig und zum Nachteil der Patienten ist es ohnehin. Vielleicht hilft auch hier eine Idee von Robert Koch: "Ich wünsche, dass im Kriege gegen die kleinsten, aber gefährlichsten Feinde des Menschengeschlechts, eine Nation die andere immer wieder überflügeln möge." Deutschland ist am Zug.
Über Dr. Bodo Müller
Dr. Bodo Müller ist Chefarzt für Gynäkologie und Geburtshilfe im Vivantes-Klinikum Berlin Hellersdorf. Gleichzeitig ist er Gründer von esanum.