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Neue Perspektiven in der Krebsmedizin

Interview mit DKK-Kongresspräsident Prof. Dr. Thomas Wiegel: Fast monatlich kommen neue, viel versprechende Krebstherapien auf den Markt. Und es stecken unzählige weitere in der Pipeline. Doch jährlich sterben in Deutschland immer noch 224.000 Menschen an Krebs. Wie gehen Mediziner mit dem Druck und mit den Chancen der rasanten Entwicklung in ihrem Fach um?

Immer neue Herausforderungen in der Onkologie

Fast monatlich kommen neue, viel versprechende Krebstherapien auf den Markt. Und es stecken unzählige weitere in der Pipeline. Doch jährlich sterben in Deutschland immer noch 224.000 Menschen an Krebs. Wie gehen Mediziner mit dem Druck und mit den Chancen der rasanten Entwicklung in ihrem Fach um?

csm_Prof_Wiegel_200906_02_7d..Diese und viele andere Themen werden auf dem Deutschen Krebskongress im Februar 2018 diskutiert werden. Fragen an Prof. Dr. Thomas Wiegel, Ärztlicher Direktor der Klinik für Strahlentherapie und Radioonkologie, Universitätsklinik Ulm und Präsident des 33. Deutschen Krebskongresses.

esanum: Perspektiven verändern Krebs – Krebs verändert Perspektiven – das ist das Motto des 33. Deutschen Krebskongresses, wie ist es zu verstehen?

Wiegel: Wir haben ja auf dem Krebskongress die Tradition, dass der Kongresspräsident das Motto mit auswählen kann. Und da wir die letzten beiden Male den Focus auf individualisierte Medizin gerichtet haben, rücken diesmal bestimmte Fächer in den Mittelpunkt, die sonst eher an den Rändern stehen. Das meint der erste Teil des Mottos. Der zweite Teil bezieht sich auf die Erkrankung selbst und wie sie die Patienten zwingt, neue Perspektiven zu entwickeln. Und hier geht es auch ganz gezielt um die Palliativmedizin. Der Tod und das Sterben waren bisher kein Schwerpunktthema des Deutschen Krebskongresses.

esanum: Welche Bereiche rücken Sie vom Rand in den Mittelpunkt?

Wiegel: Das bezieht sich auf diagnostische und therapeutische Bereiche, aber auch auf die Molekularpathologie, diagnostische Radiologie, Nuklearmedizin und Strahlentherapie. Diese haben in den letzten fünf Jahren gewaltige Fortschritte gemacht. Ich denke an die Hybridverfahren der Nuklearmedizin. Dahinter verbergen sich die Pet CTs mit ihren vielen Tracern, die aus dem klinischen Standard nicht mehr wegzudenken sind, auch wenn ihr Einsatz nicht überall und nicht immer komplett bezahlt wird. Sie führen häufiger zu Frühdiagnosen von lokoregionären Metastasen oder zu Fernmetastasen-Diagnostik und damit zu Unterschieden der Tumorausdehnung - also Dinge, die man früher mit dem „normalen“ Staging nicht gesehen hat. Und das kann die gesamte Therapie verändern. Zum Beispiel kann man aggressive lokale Therapieverfahren vermeiden, wenn man weiß, dass es schon Fernabsiedlungen gibt. Dann wird man gleich mit einer Systemtherapie starten. Ein gutes Beispiel ist ein neuer Tracer, der in Heidelberg entwickelt, womit man nach radikaler Prostatektomie, wenn der PSA-Wert wieder ansteigt, deutlich häufiger und früher als bisher die Tumorlokalisation sehen und dann auch gezielt behandeln kann. Oder wir sehen, dass es gar kein Lokalrezidiv gibt, dafür aber eine Knochenmetastase. Auch diese Entwicklungen meint das Kongressmotto, da sie zu erheblich anderen Perspektiven führen.

esanum: Wie verändern diese vielen Möglichkeiten die Therapie?

Wiegel: Es gibt die großen Fächer, die im Mittelpunkt stehen, z.B. die Innere Medizin mit großen klinischen Studien zur Lebensverlängerung durch Chemotherapien. Doch die Krebsmedizin besteht aus unendlich vielen Bereichen, die sehr wichtige Beiträge leisten. Die diagnostische Radiologie zum Beispiel, dort haben wir heute die Verbindung eines PET mit einem Kernspintomographen, welche langsam in die Routine hineinkommt. Da sehen wir Tumoren, die wir früher gar nicht sehen konnten. Diese Weiterentwicklungen bedeuten einen unglaublichen Schub mit therapeutischen Konsequenzen. Denn auch der Chirurg kann plötzlich ganz anders planen als er das vorher konnte. Enorm wichtig ist auch die molekulare Pathologie. Durch Gentests, prädiktive Tests, zusätzliche Rezeptorbestimmungen und ähnliches kann man die Systemtherapien gezielter einsetzen. Das heißt, die Waffen der Internisten werden durch die Vorarbeit der Pathologen überhaupt erst scharf gestellt.

esanum: Die Krebstherapie verändert sich derzeit geradezu revolutionär – wie erleben Sie es als Uni-Professor und Forscher auf Ihrem Gebiet, der Strahlentherapie?

Wiegel: In der Strahlentherapie können wir jetzt die Hybridbildgebung relativ genau in die Planungssysteme hineinfusionieren - und man sieht den "leuchtenden" Tumor im Planungs-CT. Das bietet enorme Vorteile, indem Übertragungsfehler unwahrscheinlicher werden. Das trifft auch für lokoregionäre Lymphknotenmetastasen zu. Diese neuen Möglichkeiten stellen aber auch ganz andere Forderungen an die Interdisziplinarität. Strahlentherapeuten sind ja nicht unbedingt Diagnostiker. Man muss sich den Rat von den Befundern holen. Im Zweifel wird man die Nuklearmediziner anrufen und dann erläutern diese das noch einmal. Dadurch werden auch die Tumorboards erheblich aufgewertet.  Man ist mehr auf einander angewiesen, und zugleich verbessert sich die Präzision der Bestrahlung, was sich natürlich in einer verbesserten Patientenbehandlung niederschlägt.

Als ich 1989 meine Ausbildung begonnen habe, hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können, was heutzutage der Standard ist. Eine unglaubliche Entwicklung, die alle Beteiligten auch fordert, das darf man nicht unterschätzen. Man muss auf der Höhe der Zeit bleiben, sich ständig weiterbilden. Wir haben einen sehr schönen und anspruchsvollen Beruf.

esanum: Auf welchem Gebiet sehen Sie derzeit die rasantesten Entwicklungen?

Wiegel: Die Immuntherapien sind schon sehr beeindruckend. Noch ist nicht ganz klar, wie durchgreifend sie wirklich sind. Sie können erst dadurch zielgerichtet gesteuert werden, da die Patholgen diagnostizieren können, ob diese Tumoren auf eine solche Behandlung überhaupt ansprechen. Und in dem Moment, wo wir mit Mitteln der Diagnostik herausfinden, welcher Tumor auf welche Behandlung anspricht, stehen wir vor einem Durchbruch. Das ist der entscheidende Wandel, der bevorsteht. Denn die neuen Therapien sind oft auch nebenwirkungsärmer.

esanum: Welche Perspektiven rechnen Sie der personalisierten Medizin aus?

Wiegel: Das ist sehr vielschichtig. Es geht nicht nur um die Chemotherapie – das ist nur ein Teilaspekt. Die personalisierte Medizin beginnt schon in der Einflugschneise,  der Diagnostik, denn wir haben eine große Palette von diagnostischen Werkzeugen zur Verfügung. Also müssen wir aus dieser immer aufwendigeren Bildgebung die richtigen Verfahren auswählen. Auch das fördert und fordert wiederum die Interdisziplinarität wie sie so noch nicht da war - und das kann durchaus viele Kosten sparen.

esanum: Bei Brustkrebs wird inzwischen sehr genau analysiert, ob eine Patientin von einer Chemotherapie profitieren kann. Steht auch die Strahlentherapie vor einer derartigen Entwicklung?

Wiegel: Das Grundprinzip gibt es durchaus. Zum Beispiel nach radikaler Prostatektomie bei Prostatakrebs. Wir können dem Patienten sagen: es gibt diese und jene Risikofaktoren, es gibt die Wahrscheinlichkeit, dass eine zusätzliche Strahlentherapie in Ihrem Fall nutzt.

Wir reden ja immer über statistische Wahrscheinlichkeiten. Wenn man auf Grund eines prädiktiven Tests einer Frau mit Brustkrebs sagt: "Sie haben ein Risiko von 20 Prozent in fünf Jahren Metastasen zu entwickeln" - was bedeutet das für die Patientin? Und was bedeutet das bei 4 Prozent? Da ist immer noch die Patientin gefordert, die die Entscheidung verantwortlich trifft. Sie braucht natürlich Beratung, eine menschlich-empathische Umgebung. Auch vier Prozent können unter Umständen viel sein – je nachdem wie man persönlich aufgestellt ist. Manche sagen, okay, das genügt, das möchte ich nicht. Andere sagen, ich habe zwei kleine Kinder, ich mache alles, was mir Sicherheit geben könnte. Das ist die ärztliche Aufgabe, Menschen dahin zu führen, dass sie sich abgeholt fühlen, damit sie hinter ihrer Entscheidung stehen können – selbst wenn es doch später zu Metastasen kommen sollte.

esanum: Werfen die vielen neuen und auch teuren Möglichkeiten der Krebsmedizin auch ethische Fragen auf?

Wiegel: Natürlich. Es geht ja immer auch um viel Geld, um sehr hohe Kosten. Und nicht nur durch Medikamente. Kann sich unsere Gesellschaft diese hohen Kosten leisten? Den Umgang damit muss jeder Arzt mit sich selbst klären. Und diese Fragen müssen auch diskutiert werden, zum Beispiel auf dem Deutschen Krebskongress.

esanum: Was sagen Sie zur Gefahr der Übertherapie?

Wiegel: Sie ist überall gegeben, wenn die Angebote so groß sind. Man muss die Therapien als Behandler kritisch hinterfragen und gute Argumente haben, sie den Patienten zu empfehlen. Manche Patienten wollen alles haben, alles tun, andere wollen sehr genau über den "Preis" aufgeklärt werden – in Bezug auf Nebenwirkungen und Lebensqualität. Und da ist der Arzt persönlich gefragt. Menschen hören viel genauer zu, wenn ich sage: "Die meisten der Patienten, die ich sehe, vertragen diese Therapie sehr gut" als wenn ich sage: "Sie haben ein Risiko von 7 Prozent möglicher schwerer Nebenwirkungen".

esanum: Drängen die hochwissenschaftlich fundierten neuen Therapien alte Mittel und Weisheiten wie genug Bewegung, gesunde Ernährung, psychische Gesundheit an die Wand? Oder sind beide Seiten gut vernetzt?

Wiegel: Das ist eine schwierige Frage. Es kostet viel Zeit, auf diese wichtigen Fragen einzugehen. Auf unserem Kongress spielen aber Sport und Ernährung eine ganz erhebliche Rolle. Es gibt ja viele gute Daten zu diesen Punkten.

esanum: Was ist noch neu und spannend auf dem Kongress?

Wiegel: Unsere rund 50 medizinischen Oxford-Debatten werden sicher ein Höhepunkt. Dort wird ein Problem auf den Punkt gebracht und die Zuhörer stimmen ab, was sie für die beste Lösung halten. Dann treten ein Pro-Akteur und ein Contra-Akteur auf und jede Seite bekommt einen Sekundanten. Nach der auch schon einmal scharfen Debatte wird noch einmal abgestimmt. Aber auch bei scharfen Debatten darf es niemals zu persönlichen Streitigkeiten kommen – eine gute, alte britische Tradition. Zum Beispiel ist der Nobelpreisträger Professor Harald Zur Hausen dabei, da geht es um die HPV-Impfung von jungen Mädchen.

esanum: Wie wird sich der Schwerpunkt Palliativmedizin darstellen?

Wiegel: Es gibt interessante Studien, die zeigen in eine Richtung: Lieber weniger aggressive Therapie und dafür eine verbesserte Lebensqualität. Beim Bronchialkarzinom ist bekannt, dass Patienten, die mit einer Best Supportive Care frühzeitig behandelt werden, länger leben als mit einem späten Einsatz  dieser Unterstützungsmaßnahmen. Auf einem eigenen Symposium geht es auch um aktive Sterbehilfe, ein Thema, das in aller Munde ist. Es geht aber auch darum, Patienten entscheidungsreif zu machen in der Palliativsituation. Wann fängt man an, ärztlicherseits zu raten, die Menschen sollen ihre letzten Dinge ordnen? Das sind Fragen, da bewegt sich unheimlich viel. Auch in der Strahlentherapie haben wir unsere Dogmen gewechselt. Wir bestrahlen heute zum Beispiel bei Knochenmetastasen häufig mit hohen Einzeldosen mit sehr kurzen Behandlungszeiten bei geringer Nebenwirkungsrate.

Und wir werden eine sehr beeindruckende Fotoausstellung von einer kanadischen Künstlerin haben, die die Krebserkrankung ihrer beiden Eltern über die letzten Lebensjahre fotografisch begleitet hat. Das sind ganz emotional berührende Bilder über den familiären Umgang mit dieser Erkrankung.

esanum: Kunst und Emotionalität? Das ist nicht sehr verbreitet auf medizinischen Fachkongressen.

Wiegel: Ich finde das wichtig, dass wir uns auch berühren lassen. Vor 17 Jahren war ich Kongress-Sekretär des damaligen Deutschen Krebskongresses. Die Diskussion um Interdisziplinarität in der Krebsmedizin hatte gerade erst begonnen. Da haben wir überlegt, wie wir dieses neue Thema spannend rüber bringen könnten. In der Zeit war gerade die Compagnie Sasha Waltz am Start – und wir haben es geschafft, dass Frau Waltz mit ihrer Compagnie auf dem Kongress 40 Minuten lang ein eigenes Stück zum Thema "Interdisziplinarität" inszeniert hat. Das war ganz wunderbar, der große Saal war überfüllt. Das Stück ist später auch auf Arte gelaufen. Kunst und Medizin, das passt schon. Mache Dinge muss man auch einmal emotional begreifen. Medizinerinnen und Mediziner sind schließlich keine Maschinen.